Arno und Arno

 

Der eine Arno stand mit seinen Büchern immer wieder zuoberst auf den Schweizer Bestsellerlisten, der andere Arno war mit Davos mehrmals Schweizer Eishockey-Meister und kein anderer Coach erfolgreicher als er. Sie sind beide Bündner, der eine, Camenisch, aus der Surselva, der andere, Del Curto, aus dem Engadin, und jetzt haben sie noch etwas gemeinsam: Auch Del Curto hat ein Buch herausgegeben, es ist seit drei Wochen die Nummer 1 bei den Schweizer Sachbüchern, «Mit Köpfchen durch die Wand»  heisst es, geschrieben zusammen mit Franziska K. Müller.

Vor sechs Jahren habe ich zusammen mit meinem Kollegen Simon Graf für die SonntagsZeitung ein Interview mit den beiden gemacht. In Davos haben sie sich getroffen, Camenisch, der Sport liebt, hat sich schon als Kind für Eishockey interessiert und Del Curto verehrt, sie verstanden sich damals sofort bestens, und zwei Wochen später konnte Camenisch ein Spiel am Spengler-Cup direkt neben der Spielerbank verfolgen.

Del Curto sagte in diesem Gespräch, wenn er einmal ein Buch schreiben würde, dann wäre es ein Krimi, aber eine Biografie über ihn werde es nie geben, «Nie, nie!», sagte er. Damals.

Ja, ja, er wisse, dass er dies gesagt habe, sagt er heute, lacht, und während dem Arbeiten an seinem Buch habe er zehnmal gesagt, er mache nicht weiter, er wolle das nicht. Jetzt ist er aber glücklich, dass es dieses Buch gibt, auch wenn ihm der Rummel zu gross sei;  dass er auch stolz ist, sagt er nicht, aber man spürt es, es stehe, sagt er, diese Woche immer noch auf Platz 1, vor dem neuen Federer-Buch. 

Und stolz ist er sicher, dass ihm der andere Arno kürzlich geschrieben hat, «mit einem Bild , er und mein Buch», aufgenommen in Davos. Und bald werden sich Del Curto, 65,  und Camenisch, 43,  in Bern treffen, um miteinander zu reden. Von Autor zu Autor. Mit seinem letzten Buch «Schatten über dem Dorf», seinem persönlichsten, einem sehr bedrückenden, intimen, stand Camenisch 21 Wochen lang in den Schweizer Bestenlisten. 

Hier das Interview vom Dezember 2015.

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Poesie trifft Puck


Arno tritt ins Foyer des Waldhotels Bellevue oberhalb von Davos, es ist anfangs Dezember 2015. «Wer ist der Arno?», fragt er lachend. Er weiss natürlich, wer der Arno ist, geht auf ihn zu und umarmt ihn, als würden sie sich schon lange kennen. Sie treffen sich zum ersten Mal, Arno und Arno, Del Curto, der Hockey­trainer, 59, und Camenisch, der Schriftsteller, 37. Und bevor die Hotelmanagerin die beiden in die noble Thomas-Mann-Suite führen kann, fürs Foto mit Sicht aufs verschneite Davos, erblickt Arno, der Hockeytrainer, in einer Ecke ein Klavier, setzt sich hin und beginnt zu klimpern. Die Mondschein­sonate von Beethoven. Er ärgert sich, dass er nicht alle Töne trifft und spielt doch weiter. Es tönt halbwegs nach einer Melodie.

Auf dem Balkon der Suite erklärt die Hotelmanagerin die Geschichte, dass einst in diesem Zimmer des damaligen Waldsanatoriums die kranke Katia kurte und ihr Ehemann Thomas Mann gegenüber ein Zimmer gemietet hatte, um sie immer beobachten zu können. ­Jener Aufenthalt inspirierte den Dichter zu seinem weltberühmten Roman «Der Zauberberg». Del Curto ist begeistert über die ­wunderbare Aussicht auf Davos von hier oben, fragt Camenisch: ­«Woher kommt du eigentlich?»

In Tavanasa in der Surselva ist Arno, der Jüngere, aufgewachsen. «Aha, aus dem Oberland», sagt Del Curto lachend. Vom Leben im ­winzigen Dorf am Rhein, in dem es vier Monate im Jahr nur Schatten hat, erzählen die meisten ­Geschichten des mit vielen Preisen ausgezeichneten Bündner Schriftstellers. Wieder unten im Foyer des Waldhotels setzen sich Del Curto und Camenisch vors Kaminfeuer und beginnen zu reden.

Del Curto: Schön, einmal einen anderen Arno zu treffen. Aber mir gefällt der Name nicht.

Camenisch: Mir gefiel er lange nicht. Jetzt ist es mir wurscht.

Del Curto: Immerhin wurde ich dadurch Fiorentina-Fan. Denn der Arno fliesst ja durch Florenz. Ich kenne sonst keinen anderen Arno. Und es gibt auch keinen Papst, der Arno heisst.

Nur einen Hockeypapst.

Del Curto: Ich rede von einem richtigen Papst. Ich bin ein Kenner, was die Biografien von Päpsten angeht. Das fing an mit der Geschichte des 33-Tage-Papstes, ­Johannes Paul I., der ja vergiftet wurde. Es ist im Vatikan wie überall auf dieser Welt: Gier, Macht und Geld machen alles ­kaputt. ­Einer meiner Vorbilder ist Papst Johannes XXIII. Ein ganz feiner Mann! Es wäre schön, wenn es einmal einen Papst Arno gäbe. Vielleicht schafft es ja noch einer von uns. Wer weiss?

Camenisch: Eher du. (beide ­lachen)

Das Interview am 27. Dezember 2015 in der SonntagsZeitung.

Del Curto: Mich könnten sie nicht umbringen. Ich würde den Cocktail zuerst jemand anderem zu trinken geben. Aber sag, Arno, wie kamst du auf die Literatur?

Camenisch: Ich wusste nicht, was ich mit 20 machen soll. Ich war vielleicht etwas naiv. Aber manchmal ist es gut, naiv zu sein. Mit 17, 18 begann mich die Sprache sehr zu interessieren. Zuvor hatte ich nur Sport treiben wollen, alles Mögliche, vor allem Fussball. Aber dann passierte etwas. Wir begannen zusammenzusitzen und auf Rätoromanisch zu reimen. Schuld war mein Bruder. Es meldete mich zu irgendeinem Wettbewerb an. Und als ich zum ersten Mal auf der Bühne stand, dachte ich: Das gefällt mir!

Del Curto: Was war dein erster Text?

Camenisch: Ich glaube, es ging um die Liebe. Natürlich, um die Liebe. (alle lachen) Hast du nie ­geschrieben?

Del Curto: Doch, doch. Ich führe schon seit Jahren eine Art Tagebuch. Meistens schreibe ich nur einen markanten Satz pro Tag.

Camenisch: Zum Beispiel?

Del Curto: Sachen wie: Jetzt geht dieser Mist wieder los! Diese hausgemachten Probleme! Interessant ist, anhand meiner Notizen auf eine Saison zurückzublicken. Oft ahne ich die Tendenzen richtig voraus. Am Anfang notierte ich noch viele taktische Dinge. Heute nicht mehr. Ich könnte ein Riesenbuch schreiben. Ein geiles Buch!

Eine Autobiografie?

Del Curto: Nein, keine Autobiografie. Über die Entwicklung des Eishockeys, des Sports, der Menschen. Was ich da alles schreiben könnte. Gewaltig! Ich müsste nur mein Büchlein hervorholen und darin schmökern. Was ich nie gedacht hätte: Kleinigkeiten können bei uns alles kaputtmachen. Wenn nur einer unzufrieden ist, kann er das ganze Team anstecken. Wer die Probleme nicht frühzeitig ­erkennt und an der Wurzel packt, ist ihnen ausgeliefert.

Camenisch: Es geht also immer ums Ego.

Del Curto: Oft. Aber es gibt auch solche, die haben gar keine Ahnung, was es bedeutet, zusammen etwas Grösseres zu kreieren.

Als Schriftsteller haben Sie diese Probleme nicht, Arno Camenisch. Dafür andere. Fühlen Sie sich manchmal einsam bei Ihrer Arbeit?

Camenisch: Ich glaube nicht, dass ich einsamer bin als ein Trainer. Denn die Basis meiner Arbeit ist meine Neugierde an den ­Menschen. Durch sie komme ich zu meinen Ideen, zu meinen ­Geschichten. Ich sitze nicht immer still in meinem Kämmerlein und schreibe, sondern spreche oft mit anderen Menschen.

Del Curto und Camenisch beim Spengler-Cup 2015.
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Del Curto: Wie legst du die ­Themen für deine Bücher fest?

Camenisch: Wenn ich einmal 25 Bücher geschrieben habe, werde ich wohl feststellen, dass ich ­immer die ähnlichen Themen einkreise. Es geht ums Leben, um den Tod, um die Liebe. Um die Fragen: Wie gehen Leute mit­einander um? Was sind die ­Mechanismen in einem Gefüge? ­Dabei versuche ich, einen Schritt weiterzugehen. Was soll ich einen Roman über Stockholm schreiben, wenn ich noch nie dort war? Wenn ich über etwas schreibe, das ich sehr gut kenne, habe ich die Möglichkeit, es von einer anderen Seite zu beleuchten. ­Interessant wird ein Text, wenn er präzise ist. Aber es stellt sich auch immer die Frage: Wie kann man sich ­weiterentwickeln?

Del Curto: Besteigst du einen Berg, wenn du nicht mehr weiterweisst?

Camenisch: Nein. Dafür bin ich viel zu ungeduldig. Aber ich laufe sehr gerne durch die Stadt, wenn es dunkel ist. Und du?

Del Curto: Ich gehe in die Höhe und schaue runter. Das hilft mir, die Dinge klarer zu sehen. Das tat ich, nachdem ich vor ein paar ­Jahren Sankt Petersburg zugesagt hatte, aber ein mulmiges Gefühl hatte. Ich kam mit dem Auto aus Chur, wo ich den Pass hatte machen lassen für die Vorstellung in Russland. Ich fuhr durchs Prättigau, machte bei Küblis halt und lief rauf nach Pany. Ich nahm ein bisschen Wein mit, Salsiz und Brot und studierte und studierte. Es war sonnig, die Aussicht wunderbar. Als ich hinunterstieg, war mir wohler. Denn dann wusste ich: So, du bleibst hier! Ich nahm das Telefon in die Hand und sagte ab.

Camenisch: Wenn ich in die Natur gehe, am liebsten in den Wald. Ich habe jede zweite Woche drei, vier Tage mit meiner Tochter. Die sind extrem wichtig für mich, um herunterzukommen. Wir gehen oft in den Wald spazieren. Viele Texte entwickle ich beim Auto­fahren. Da hat man viel Zeit zum Denken. Gestern versuchte ich bis Mitternacht, einen Text hinzukriegen, aber es ging nicht. Und bei der Fahrt von Biel nach Davos sah ich plötzlich alles klar.

Del Curto: Ja, das Autofahren! Früher, damals in Zürich, da war es schlimm bei mir. Als ich daran war, mein Hockey zu erfinden. Da hatte ich Tag und Nacht nur diese Dinge im Kopf. Spielsysteme, ­taktische Varianten, und so weiter. Ich fuhr mit dem Auto heim, und als ich dort angelangt war, hatte ich keine Ahnung mehr, wo ich durchgefahren war. Verrückt! Ich war völlig weg gewesen. Wie in Trance. Ein geiles Gefühl!

Camenisch: Das kenne ich. Wenn ich an einem Buch schreibe, kann ich nie mehr richtig schlafen. Ich gehe dann ganz darin auf, was ich tue. Ich brauche dann keine Ablenkung mehr. Bin ganz bei mir. Diese Energie weist mir den Weg. Wenn ich mich hinsetze und nach zehn Minuten müde werde, weiss ich: Etwas stimmt nicht. Aber wenn ich die Energie spüre, kann ich den ganzen Tag durchziehen. Auch wenn ich müde bin.

Del Curto und Camenisch in der HCD-Garderobe.

Arno Del Curto ist abhängig davon, dass seine Spieler seine Anweisungen umsetzen. Und Sie, Arno Camenisch?

Camenisch: Abhängig? Natürlich will ich, dass ich das Publikum erreiche. Und dass meine Lesungen ausverkauft sind. Aber ich realisiere immer mehr: Das Wichtigste ist, dass ich ganz bei mir bin. Wenn es für mich stimmt, stimmt es auch nach aussen. Was in der Literatur die Modethemen sind, muss mir egal sein. Wenn mich jemand fragt, ob ich nicht einmal einen Roman schreiben wolle, der in der Stadt spielt, antworte ich: «Mich interessiert der Mensch. Ob er nun in Tavanasa lebt oder in New York, ist egal. Auch in Tavanasa weinen wir, hoffen wir, lieben wir uns. ­Leben und sterben wir.»

Ihre Bücher werden in 20 Sprachen übersetzt...

Del Curto: (unterbricht)... 20 Sprachen! Was für 20 Sprachen? Chinesisch?

Camenisch: Ja, auch.

Del Curto: Bist du ein reicher Siech? (alle lachen) Ich gönne es dir! Kann ich dich anrufen, wenn ich einmal Probleme habe?

Camenisch: (lacht) Ich denke, es ist eher umgekehrt. Für eine Übersetzung bekommst du vom Verkaufspreis drei Prozent. Oder so.

Del Curto: Ja aber 20 Länder! China!

Camenisch: Wir sprechen nicht von grossen Auflagen.

Del Curto: Wie viele Bücher verkaufst du in China?

Camenisch: Keine Ahnung. Auf Chinesisch gibt es einen Auszug von 50 Seiten, der in einer Anthologie erschienen ist. In anderen Sprachen sind es vielleicht drei Bücher, die übersetzt wurden. Oder eines.

Del Curto: Aber das ist nicht schlecht. Kennst du die anderen Schweizer Schriftsteller, hockst du mit denen zusammen? Mit Peter Bichsel? Oder Pedro Lenz?

Camenisch: Ja, beide kenne und mag ich gut.

Del Curto: Ist ein Schriftsteller ­eigentlich per se ein Linker?

Camenisch: Ich denke schon. In meinem Fall stimmt es jedenfalls. Meine Bücher sind auch ein Statement für die Vielstimmigkeit.

Del Curto: Bist du sozial ein­gestellt?

Camenisch: Ja, unbedingt!

Del Curto: Gut, wenn du aus der Surselva stammst, musst du ja sozial eingestellt sein. (lacht)

Camenisch: Ich bin für Vielfalt. Als ich in Tavanasa aufwuchs, redeten wir zu Hause Romanisch. Nebenan wurde Deutsch geredet, über uns Italienisch. Die Mutter eines Schulkollegen sprach Französisch, es gab auch Portugiesen. Und man hörte Sprachen aus dem Balkan. Das hat mich geprägt. Mich faszinieren Sprachen, ihr Sound. Und ich finde es spannender, wenn jemand Englisch redet und es eine gewisse Farbe drin hat.

Del Curto: Aber nicht so stark wie beim mir. Mein Englisch ist ­Buschenglisch. (lacht) Ich muss unbedingt ein paar Bücher von dir lesen. Eines habe ich angefangen: Hinter dem Bahnhof.

Camenisch: Dann lies weiter!

Del Curto: Ja, aber erst nach der Saison. Jetzt habe ich keine Zeit. Denn ich habe mir den letzten Zwick an der Geisel gegeben. Jetzt will ich bei meinem Team nochmals einen richtigen Sprung sehen. Sonst komme ich in die Surselva und schreibe auch ein Buch.

Camenisch: Was für eines?

Del Curto: Es müsste ein Krimi sein. Weil ich eine solch blühende Fantasie habe. Ich habe alle ­Bücher von Henning Mankell ­ge­lesen. Oder von John Grisham. Ich finde es genial, wie Grisham ­Dinge aufnimmt, die in der Welt passieren. Wie er etwa all die Gegensätze Amerikas in einem Buch verpackt. Phänomenal!

Camenisch wäre gerne einmal Profi-Fussballer geworden.

Camenisch: Ich lese sehr gerne Interviews. Um zu erfahren, wie Menschen denken.

Del Curto: Aber leider muss man heute gewaltig aufpassen, was man sagt. Wenn ich die Kommentare bei Online-Artikeln lese, muss ich den Kopf schütteln. Ich lese das eigentlich nie, aber einmal schaute ich es mir an. Mir wurde fast übel. Die Welt hat sich verändert. Mit Facebook, Twitter, iPad, iPhone, iPumm, iPomm, iPamm.

Camenisch: Wir sind zwar mit fünf Gerätchen verbunden, trotzdem ist alles unverbindlich. Mit mir kann man abmachen, in fünf Jahren wieder hier. Und dann stehe ich hier in fünf Jahren. Wir müssen nicht mehr simsen. Das habe ich von zu Hause mitgekriegt.

Del Curto: Ich machte einmal einen Champions-League-Abend mit meinem Sohn. Wir kochten, assen, setzten uns vor den Fern­seher. Aber irgendwann merkte ich: Er schaut sich den Match gar nicht an, sondern ist die ganze Zeit am Handy. Obschon er Fussball auch gerne hat. Am Schluss sagte ich zu ihm: «Mich interessiert, was du den ganzen Abend hin- und hergeschrieben hast. Kann ich einmal dein Handy anschauen?» Er gab es mir, und ich las alles durch. Kein Wort davon wichtig! Das war Luft! Aber eineinhalb Stunden harte Arbeit! Ich fragte ihn: «Wo ist da das Fleisch am Knochen? Nirgends!» Trotzdem hatte er das gebraucht. Und als er ging, war er schon wieder am Handy.

Camenisch: Das Thema ist Hingabe. Es geht darum, sich etwas hinzugeben. Wenn man sich ständig ablenkt, geht das nicht. Was ich bei meinen Lesungen immer wieder spüre: Die Leute bewegt, wenn ich mit Leib und Seele dabei bin. Es geht um Ehrlichkeit dem Gefühl gegenüber, das man in jenem Moment hat. Wenn ich auf die Bühne gehe, nehme ich mir immer vor: Heute trete ich auf, als wäre es das letzte Mal. Egal, wo ich bin. Ob das vor 400 Leuten ist oder in einer kleinen Buchhandlung. Und ich bin auch jedes Mal nervös.

Beide sind Sie in der Unter­haltungsindustrie tätig. Wollen Sie einfach unterhalten? Oder haben Sie höhere Ziele?

Del Curto: Dass wir unterhalten, ist wichtig. Wir wollen ja die ­Zuschauer ins Stadion bringen, Sponsoren anlocken. Wir wollen in den Medien vertreten sein, ­damit der Wert unserer Marke ­gestärkt wird. Nur zu gewinnen, reicht nicht. Man muss auch unterhalten. Und das bringt einen auch weiter. Wenn ich Beton spielen lasse, total defensiv, kann ich gegen eine grosse Mannschaft wie Sankt Petersburg von zehn Spielen vielleicht eines gewinnen. Doch wenn man etwas wagt, sich weiterentwickelt, etwas kreiert, gewinnt man fünf Spiele von zehn. Oder sechs. Ja, wir wollen unterhalten. Aber dahinter steckt eine Philosophie.

Sie, Arno Camenisch, berühren existenzielle Fragen des ­Lebens: den Tod, Sehnsüchte, Träume, Beziehungen.

Camenisch: Die Frage ist, wie man das tut. Es kann auch sehr unterhaltend sein, wenn man über existenzielle Fragen schreibt. Wenn ich eine Lesung mache am Abend, die Leute haben den ganzen Tag gearbeitet, dann dürfen sie auch unterhalten werden. Ich bin der Gastgeber und versuche, ihnen einen guten Abend zu ­bieten. Obschon es um grosse Themen geht. Mich interessiert der Moment zwischen Komik und Tragik. Dann, wenn ich diese Kante treffe. Eigentlich ist es ein hundstrauriger Text, aber trotzdem ist er ziemlich komisch.

Del Curto: Das erinnert mich da­ran, wie ich kürzlich am Fern­sehen einen deutschen Politik­wissenschaftler sah, der brutal klar analysierte. Es ging um den Islam und ­Europa. Grosse Fragen. Trotzdem hatte er immer ein ­Lächeln auf dem Gesicht. Deshalb blieb ich dran. Mit diesem ­Lächeln hatte er mich.
Camenisch gratuliert Del Curto (Foto Instagram Verlag Wörterseh).

Gibts auch einen Moment, in dem Sie sich auf die Schulter klopfen und sich ausruhen? Nach dem Meistertitel? Nach dem vollendeten Buch?

Camenisch: Ich höre von allen Seiten immer wieder: Tu mal eine Woche gar nichts. Aber das kann ich nicht. Selbst wenn ich es versuche. Wenn ich mir nach einer langen Tournee vornehme, zwei Wochen auszuspannen, wälze ich am zweiten Tag schon die nächste Idee. Mich treibt es immer weiter.

Del Curto: Bei mir war das bis vor einigen Jahren auch unmöglich. Wenn wir Meister geworden waren, feierte ich zwar das eine oder andere Fest, aber im Kopf war ich schon beim nächsten Jahr. Bei der Vorbereitung, den neuen Spielern. Inzwischen kann ich besser abschalten. Wenn ich einen Film anschaue, gut essen gehe oder an ein Konzert, kann ich alles vergessen. Wenigstens für ein paar Stunden. Lange konnte ich das nicht. Ich warf fast mein ganzes Leben fort fürs Eishockey. Aber ich bereue es nicht. Denn es ist eine schöne Materie.

Was verbinden Sie mit dem HCD, Arno Camenisch?

Camenisch: Ich verfolge ihn, seit ich klein bin. Meine Mutter strickte mir einen Pulli mit dem HCD-Abzeichen. Ich schaute Spiele am Fernsehen. Und dann fuhr ich zum ersten Mal hier rauf, um einen Match live zu schauen. Grossartig! Mir gefallen die Freude und die Energie, die die Mannschaft auf dem Eis ausstrahlt. Und natürlich auch ihr Trainer.

Wäre Arno Del Curto eine Figur für einen Ihrer Romane?

Del Curto: Ja nicht!

Camenisch: Sagen wir es so: Es gibt Parallelen zu Figuren, die in meinen Büchern vorkommen. Mich interessieren ja vor allem Menschen, die eigen sind.

Del Curto: Ich möchte nie ein Buch über mich. Nie! Ich will gar nicht zu sehr in der Öffentlichkeit stehen. Und ich weiss auch, dass es kontraproduktiv ist, wenn ich ständig in den Medien bin, meinen Senf zu allem gebe. Das registrieren die Spieler. Wer in «Glanz & Gloria» auftreten will, soll das tun.

Wo ziehen Sie die Grenze, Arno Camenisch?

Camenisch: Wir haben uns ja für dieses Leben in der Öffentlichkeit entschieden. Das führe ich mir vor Augen, wenn mich das zu sehr beschäftigt. Die Schreibtätigkeit hat sich nicht gross verändert gegenüber früher. Aber heutzutage kommen sehr viele Verpflichtungen daneben dazu. Man kann sich nicht verstecken, muss hinaus, auftreten, lesen, sich be­teiligen am öffentlichen Leben. Das will man nicht immer. Doch ohne geht es nicht.

Arno Del Curto bekommt sein Feedback in Form von Resul­taten. Wenn merken Sie: Ein Text war gut? Aufgrund der Verkaufszahlen?

Camenisch: Das muss ich mit mir selber aushandeln. Der Verkauf ist nur ein Anhaltspunkt. Ein Text kann auch schön dicht sein und spricht trotzdem kein grösseres Publikum an.

Del Curto: Das heisst, du würdest besser Schund schreiben, um mehr Leute zu erreichen?

Camenisch: Nein, ich muss das schreiben, was ich zu schreiben habe. Aber ich muss auch akzeptieren, dass die mögliche Leserschaft kleiner ist, wenn es sehr lyrisch daherkommt. Wenn ich beginne zu überlegen, was mein Zielpublikum ist, bringt das nichts. In der Kunst muss man das tun, was für einen stimmt. Es ist eine absurde Situation: Wenn man schreibt, ist man in der absoluten Kontrolle. Dann gibt man den Text aus den Händen und schaut zu, was mit ihm passiert. Das war spannend bei meinem ersten Buch «Sez Ner». Da gab es Leute vom Fach, die gaben dem Buch keine Chance. Trotzdem schlug es ein, wurde es in mehrere Sprachen übersetzt. Aber es hätte auch anders kommen können. Das ist auch das Schöne an diesem ­Beruf: Man weiss nie, wo er einen hinführt. Das ist auch bei den ­Lesungen der Fall. Es kann sein, dass du begeistert bist von einem Text, aber dann merkst du, dass er nicht funktioniert. Dann musst du halt einen anderen zücken.

Del Curto: Was liest du momentan bei deinen Lesungen?

Camenisch: Die Kur, mein letztes Buch (das war damals, 2015). Es ist amüsant. Die Figuren sind ein bisschen schief. Sie verhandeln die Liebe, den Tod. Natürlich gibt es doppelte Böden. Aber es soll immer auch frisch sein. Meine Schreibe ist sehr ­filmisch. Es soll ein Film im Kopf abgehen. Ich erzähle einfach ­gerne Geschichten.

Del Curto: Ich habe auch ein, zwei Auftritte pro Jahr. Kürzlich war ich in Chur bei der Graubündner Kantonalbank, unserem Hauptsponsor. Aber ich bereite nie etwas vor, rede einfach drauflos. Ich ­beginne immer gleich. Ich sage: «Ich habe nicht die Weisheit mit dem Löffel gegessen.» Und: «Viele Wege führen nach Rom. Jetzt wisst ihr, von mir könnt ihr nicht viel lernen.» Dann lachen sie alle. Wenn ich rede, werde ich zum Komiker. Ich will niemanden belehren.

Camenisch: Ich will auch nicht belehren. Dafür ist ja Kunst so gut. Wir sagen nicht, was gut und schlecht ist. Wir wollen niemandem die Welt erklären. Wir stellen nur die Fragen, die Antworten muss jeder für sich selber finden. Es sind ja alle mündig.

*

   Zwei Stunden haben sie geredet, dann gehen sie noch ein Haus weiter. Unten im Dorf, im Hotel ­Grischa beim Bahnhof, sitzen sie bei einer sehr guten Flasche spanischem Rotwein zusammen. Ca­menisch erzählt, dass er Fussballprofi werden wollte. Paul Friberg, der wie er aus Tavanasa kommt und 1989 Meister mit dem FC Luzern wurde, war sein Idol. Und ihm hat er auch eine Geschichte ge­widmet, in wunderbar rasantem rätoro­manisch-deutschem Stakkato. Als ­Camenisch mal etwas fragt, reagiert Del Curto nicht sofort, entschuldigt sich, er war in Gedanken abwesend, beim nächsten Training oder seiner Vision auf der Suche nach dem perfekten Hockey.

Als sie sich trennen, ist es dunkel geworden. Del Curto geht nach Hause, mit seiner betagten Mutter, die ihn den ganzen Tag begleitet hat und für einige Wochen bei ihm wohnt. Auch Camenisch entschuldigt sich. Um 20 Uhr hat er eine Lesung in der gepflegten, kleinen Buchhandlung Schuler an der Promenade. Er liebt diese Auftritte, war schon in vielen grossen und kleinen Orten in der ganzen Welt, in Mailand, Madrid, Bueños ­Aires, New York, Moskau, Indianapolis, auch in China, und an diesem Abend eben in Davos.

40 Leute sind gekommen, viele Frauen, alle Klappstühle besetzt, draussen schneit es, und Camenisch wird zum Schauspieler, hat ein schwarzes Hemd angezogen und liest vor, mit viel Charme, Schalk und stets einem Lächeln im Gesicht. Eine Stunde lang aus seinem letzten Roman «Die Kur», zuletzt gibt es noch eine dreiminütige Zugabe mit Gedanken darüber, was er 2015 alles gelernt hat.

Dann zieht Camenisch seine schwarze Kappe an, die er so gerne trägt, geht nach draussen ins Schneegestöber, um eine seiner vielen täglichen Zigaretten zu rauchen, signiert später seine ­Bücher. Er wird bald wieder nach Davos kommen. Del Curto hat ihn zum Spengler-Cup eingeladen. Arno und Arno, vereint an der Bande.

(Das Interview erschien am 25. Dezember 2015 in der SonntagsZeitung)

Arno Del Curto mit seinem Buch auf Platz 1 der Bestenliste - wo Arno Camenisch mit seinen bisher 12 Büchern schon oft stand.

*****


Nächste Lesungen von Arno Camenisch: 11. Dezember in Uster, 13. Dezember in Chur, 16. Dezember in Luzern. 28. Dezember in St. Antönien. 29. Dezember in Soglio. 30. Dezember in Bergün (zwei Lesungen).

Talk mit Arno Del Curto, 24. Januar 2022 im Kaufleuten in Zürich.



Dazu auch diese drei Blogs vom Februar 2021, Oktober 2021 und Mai 2020:



 


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