Unterwegs

Fredys EM-Blog – Nr. 15

In elf Städten in elf Ländern, es ist eine sonderbare Fussball-Europameisterschaft in diesen Zeiten. In diesem EM-Blog möchte ich über beides schreiben, Gedanken zum Turnier, das in diesem Sommer stattfindet, aber immer noch Euro 2020 heisst, manchmal nur mit Bildern – aber auch mit Texten von früher zeigen, wie es einmal war, als eine EM nur in einem Land (oder höchstens zwei Ländern) ausgetragen wurde. Einige Erlebnisse von damals.

Unterwegs

3:10 für Brüssel nach Lüttich

Von Zürich nach Istanbul, von dort nach Baku, von Baku nach Rom, zurück nach Baku über Istanbul, von Baku nach Zürich, von Zürich nach Bukarest, von Bukarest nach Sankt Petersburg, dann, leider, zurück nach Zürich, total 18 000 Kilometer – das war der Reiseplan meines ehemaligen Tagi-Kollegen Thomas Schifferle für die Euro 2020. Vor 21 Jahren war die Europameisterschaft erstmals in zwei Ländern ausgetragen worden, in Holland und Belgien. Eine Kolumne über eine nicht ganz einfache Reise von Brüssel nach Lüttich. 


Wir sehen Flughafen, Hotel und Stadion, sonst nichts, müssen wir uns immer wieder verteidigen, wenn die lieben, neidischen Freunde vorrechnen, wo wir überall seien, in all den schönen Orten, Madrid oder Mailand oder Rom oder so. Begreift endlich, es ist harte Maloche. Tage und Wochen wie diese sind aber etwas anders. Da hat man mehr Zeit. Und lernt Land und Leute kennen.

«Nach Liège? Eine knappe Stunde, mehr nicht», sagt der Hotelportier in Brüssel. Die Karte und ein Plan aus dem Medienheft auf dem Nebensitz, Liège oder Luik (flämisch) oder Lüttich (deutsch), nach der E40 die E42, bis zur nächsten Ausfahrt, und dann sollte, so denkt man, irgendwo das Stadion kommen.

Es kommt nie. Die Ausfahrt war die falsche. Dafür kommen viele kleine Ortschaften, und sie sind wie viele Dörfer über Mittag an einem Pfingstmontag, verlassen, ausgestorben, nur Hühner im Garten, und ich fahre weiter und weiter und weiter, und manchmal sehe ich Schilder, «Luik», ja, ja, aber weil in Belgien nicht so wie bei uns alle hundert Meter eine Tafel zur nächsten führt, kommen auch immer wieder Zweifel: Bin ich überhaupt noch in der Nähe von Lüttich oder bald schon in Deutschland?

Stade Marcel Dufrasne in Lüttich

Ich kenne jetzt viele Landgasthöfe (dimanche fermé), einige Kieswege, Friedhöfe, schöne Wälder, die Flüsse Meuse und Ourthe (achtmal überquert), war in der City von Liège (tatsächlich), am Stadhuis, bin dann, glücklich, blauen Euro-Schildern nachgefahren, lange, lange wieder über Autobahnen.

Blau ist auch der Ausweis für den Presseparkplatz, die Schilder müssen also zum Stadion führen - sie führten auf einen kleinen Hügel, weit, weit weg, dorthin mussten alle Zuschauer mit blauen Eintrittskarten ihr Auto parkieren. Wieder zurück, Polizisten (dreimal), Tankwart (zweimal), eine junge Frau, ein Kind gefragt, und zuletzt, die Frau geht am Stock, sie ist wohl gegen achtzig: «Stadion?» - Sie schweigt lange. - «Sie meinen das grosse Fussballstadion? Oh, oh, wollen Sie wirklich dorthin?» – «Ja, ich muss.» - «Nein, nein, gehen Sie nicht, das ist gefährlich, sehr gefährlich, da hat es wilde Leute, die schlagen Sie, die sind schlimm.»

«Aber ich muss, ich bin Journalist.» - «Journalist? Wollen Sie über diese Wilden schreiben?» - «Nein, über Fussball.»

Sie zeigt es dann mit dem Stock, dort rechts, dann komme eine ganz steile Strasse, «fahren Sie vorsichtig», am Ende sofort rechts, dann links, und dann sehen sie die Eisenbahn, «fahren Sie dort rechts, ja nicht links.»

Das Quartier hat viele Strassen und Kreuzungen. Jetzt links? Ein junger Belgier kommt mit seinem Fahrrad, «folgen Sie mir», sagt er und radelt gleich los, als trainiere er für die Tour de France, bei der Eisenbahn fährt er nicht rechts, sondern links, ich hupe, er winkt nur, fast Tempo 50 zeigt der Tacho, Unterführung, scharf links jetzt - und tatsächlich: Dort, weit vorne, sieht man die Leuchtmasten des Stadions.

«Bon match», sagt der Belgier noch, ich fahre die letzten 500 Meter allein, stolz - doch plötzlich ist alles abgeriegelt, mit hohen grünen Containern. Irgendwo dahinter ist das Stadion. Es muss hier sein. Ich höre die Leute. Aber jetzt? Einfach das Auto stehen lassen? Aber wie zum Stadion?

Lüttich, eine knappe Stunde? Vor drei Stunden und zehn Minuten bin ich in Brüssel losgefahren. «Gibt es ein Leben ausserhalb des Fussballs?» fragt der Kommentator der belgischen Zeitung «Le Soir» am anderen Tag. Es gibt eines. 
 

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