Handylos

Fredys EM-Blog – Nr. 19 und Ende


Die Euro ist vorbei. Und als letztes eine Erinnerung an jene von 2000, die damals erstmals in zwei Ländern ausgetragen wurde, in Belgien und Holland. Frankreich, mit einem brillanten Zinédine Zidane, war Europameister geworden, durch ein Golden Goal im Final gegen Italien. 2000 war das Jahr, in dem das Handy Nokia 3310 auf den Markt kam, mit diesem konnte man erstmals SMS mit bis zu 450 Zeichen verschicken. Und von einem (verlorenen) Handy, dem wir damals noch Natel sagten, handelte diese Kolumne.


Handylos

Es war ein schöner und heisser Tag in Holland, ein kleiner Ausflug in die Dünen bei Zandvoort, etwas Ablenkung, der Sand war nicht orange, auch die Liegen nicht, und auch an der Strandbar erinnerte nichts an den Ball und das Land. Gut tat es nach zwei Wochen EM, aber irgendwann kam der Abend, und wir waren zurück im Stadion von Rotterdam.

Die deutschen Fussballer trotteten vom Rasen, alt sahen sie aus und waren es, Verlierer und früh ausgeschieden aus dem Turnier; nebeneinander Coach Erich Ribbeck, Sir Erich, den sie in der Not aus seinem Rentnerdasein auf den Kanarischen Inseln zurückgeholt hatten, und Lothar Matthäus, den die «Süddeutsche Zeitung» einen «Oldtimer mit platten Reifen» beschrieben hatte, bei dem man nicht wisse, ob er noch mal anspringe oder gleich der Abschleppdienst kommen müsse.

Bald war Mitternacht, und unten in den Katakomben des Stadions De Kuip, hektische Journalisten wie immer nach einem Spiel, ein Durcheinander, viel Gedränge, und ...

... wo ist es? Es muss doch hier sein. Ich habe es eben noch in der Hand gehabt. Telefoniert mit Zürich. Gefragt, ob der Text angekommen sei auf der Redaktion. Aber jetzt? Beim Automaten mit den Getränken? Nein. Im Veston? In der Hosentasche? Auch nicht. In der Mappe? Auf dem Pressepult liegen gelassen? Schnell nochmals nach oben gerannt, vergeblich.

Keine Ahnung, wie die Nummer lautet. Sie denkt zu Hause sicher, warum meldet er sich nicht mehr?

Verdammt. Mein lieber Luzerner Kollege wählt mit seinem meine Nummer. Es läutet. Aber wo? Es läutet auch beim zweiten Versuch, beim dritten. Immer läutet es. Irgendwo muss es sein.

Aber wir hören es nicht, das heisst, wir sehen nicht, wo es läutet, irgendwo. Nirgends ist es. Wir suchen weiter, überall. Finden es nicht. Hat’s einer, eine, und er oder sie hört es jetzt läuten und reagiert natürlich nicht?

Ein Leben ohne. Undenkbar. Wir müssen doch erreichbar sein. Jederzeit, überall, immer. Es ist ein Teil von uns. Und all die vielen Nummern, sie sind gespeichert, wir kennen sie nicht (mehr), es sind wichtige Nummern, auch geheime. 

Ich will mit dem des Kollegen eine Nummer anrufen, tausendmal schon gewählt, blind, mit einem Tastendruck, ich habe mir aber nie gemerkt, wie die Zahlen lauten – und jetzt? Keine Ahnung, wie die Nummer lautet. Sie denkt zu Hause sicher, warum meldet er sich nicht mehr. Wollte deshalb nur ausrichten, dass sie mich nicht mehr erreichen kann. Vielleicht ruft sie schon an, und es läutet und läutet, und niemand nimmt ab. Oder es ist besetzt. Was denkt sie? Es tut mir ja leid

Irgendwann resignieren wir. Es ist weg. Endgültig. In irgendwelchen fremden Händen. Denn: Wenn wir jetzt anrufen, läutet es nicht mehr, oder, wenig später, noch schlimmer: Es ist besetzt (er/sie telefoniert schon, irgendwo, irgendwohin).

Ohne ­­- wir fühlen uns nackt. Bin ich noch wer? Noch einer wie zuvor? Für niemanden mehr erreichbar. Niemand findet mich. Ich kann niemandem sagen, dass ich noch existiere. Schlimm. Und die Frage: Wie haben wir gelebt, haben wir überhaupt gelebt, einst damals, vor einigen Jahren?

Ohne. Einfach ohne. Wir können es uns nicht mehr vorstellen. Sind in Holland und Belgien, und keiner merkt es. Ich habe mich verabschiedet. Bin verschwunden. Bin nicht mehr ich.


«0-7-9», het sie gseit... (YouTube)


Ohne Handy und nach der Euro verabschiedet sich der Blog auch in eine Sommerpause, sollte der Sommer noch kommen. Ausser, es findet sich wieder, und ich will etwas ausrichten, dringend, weil ich es im Auge habe. Aber vielen Dank für die Treue.

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