Vergessen gegangen?

(Fortsetzung Mallorca-Blog 1 «Weg auf die Insel»)

 

Es war der Tag auf Mallorca, als nichts mehr ging. Drei Milliarden Menschen weltweit, so hiess es später, keinen Zugang mehr hatten. Ausgeschlossen waren. Viele verzweifelt. Hilflos.

Die halbe Welt war offline. Kein Whatsapp. Kein Messenger. Kein Instagram. Keine Nachrichten. Keine Bilder. Keine Selfies, die gezeigt werden mussten, irgendwem, dringend. Die Anzeige auf dem Handy drehte endlos, keine Nachricht ging raus. Nichts ging. Niemand schrieb uns, niemandem konnten wir schreiben, was auch immer. Waren wir vergessen gegangen? dachten wir zuerst. Weshalb leuchtete nichts auf dem Handy auf, wenigstens bei Whatsapp? Verpassen wir etwas?

Das komplette System des Facebook-Konzerns war an diesem Montagabend zusammengebrochen. Für sieben Stunden.

Und Erinnerungen kamen auf, als es Whatsapp noch gar nicht gab und auch keine Smartphones, auf denen wir alles lesen können, was wir wissen wollen.

Der Anruf aus Zürich:
«Du musst sofort schauen, schalt den Fernseher ein, sofort!»

Es war damals auch auf Mallorca gewesen, ein kurzer Aufenthalt. Plötzlich ein Anruf von einem Kollegen von der Redaktion aus Zürich. «Hast du gesehen?» - «Was?» - «Wahnsinnig, unglaublich, du musst sofort schauen, schalt den Fernseher ein, sofort!» - «Ich will zum Strand.»

Und dann erzählte er vom Flugzeug, das eben in diesen Turm in New York geflogen war. Und ich rannte zum TV, wählte den erstbesten Sender, irgendeinen spanischen wohl, aber alle anderen Sender brachten die gleichen Bilder, «Breaking News» stand oben auf dem Schirm geschrieben, von CNN, und, unfassbar, ein zweites Flugzeug, das in den anderen Turm rast, Rauch, Feuer. Alles live.

Nine-Eleven, der 11. September 2001, es war ein Dienstag, die Terroranschläge auf das World Trade Center, 20 Jahre ist es inzwischen her.

Ich sass auf Mallorca Stunden und eine Nacht lang nur noch vor dem Fernseher und an den folgenden Tagen wieder, live und Dauersondersendungen und Diskussionen und Einschätzungen und Erklärungen und immer wieder diese schlimmen Bilder, Flugzeuge, einstürzende Wolkenkratzer, Chaos, Zerstörung, Tote, viele Tote, Menschen, die davonrennen und auf den Strassen von New York umherirren.

Und am nächsten Tag fuhr ich zum nächsten Kiosk, den ich auf der Insel fand, kaufte alles, und es gab damals auch auf Mallorca an den Zeitungsständen noch vieles zu kaufen, ganz viele Zeitungen, deutsche und auch, so glaube ich, die «NZZ» fand ich irgendwo und den «Blick». Ich wollte alles lesen. TV und Zeitungen - das waren die Möglichkeiten, informiert zu sein.

Das «Can Mel» in Cas Concos.

An das denke ich, jetzt im Oktober 2021, in diesen Stunden, als wir glaubten, nicht mehr zu wissen, was in der Welt passiert, nur, weil wir nicht irgendwem persönliche Nachrichten oder Bilder senden konnten.

Den Ständer mit den Zeitungen vor meinem Bistro «Can Mel» in Cas Concos im Südosten der Insel gibt es auch nicht mehr. Die Leute hier schauen auf ihr Smartphone, wenn sie etwas wissen wollen. Den Fernseher in der Finca habe ich, seit ich hier bin, noch nie eingeschaltet.

***

Schon als Bub, dies hatte ich 2014 geschrieben, bei meiner Zeit auf Mallorca, bei meinem Entzug damals, schon als Bub wollte ich immer nur eines: alles lesen, alles. Ich war wohl 12, da lief ich in unserem Wohnort in Küsnacht jeden Sonntagabend zum Bahnhof, abends um halb sieben, da kam der Zug aus Zürich, der damals noch manchmal eine Dampflokomotive hatte, ich lief mit dem Bahnhofvorstand zum Güterwagen, er packte die Pakete auf seinen Schiebkarren, wir gingen zurück zum Kiosk, und ich war der erste, der die beiden Zeitungen kaufte. Die «NZZ», die damals dreimal täglich und auch am Sonntagabend herauskam, und die alte «Tat», und es standen die neuesten Fussballresultate drin und die Spielberichte, und einer, ich glaube, er hiess Blum, der konnte so wunderbar schreiben, ich verschlang seine Spielberichte noch auf dem Heimweg.

Und später, da gab es nur immer diese eine Frage, wo ich auf dieser Welt auch immer war, in Städten oder kleinsten Dörfern in fremden Ländern: Wo ist der nächste Kiosk? Ich lief, als Kind, oder fuhr, später, manchmal eine halbe Stunde und mehr, um Zeitungen und Magazine zu kaufen, manchmal, wenn es nichts anderes gab, auch in Sprachen, die ich nicht verstand.

«FC Küsnacht» suchte ich immer zuerst bei den
kleingedruckten Resultaten im «Sport»

Und ich erinnere mich gut, damals am Lago Maggiore, in Magadino, in den Sommerferien mit den Eltern, an diesen kleinen Laden, Milch und Brot und Salami gab es da auch zu kaufen und wunderbare Glacés, und ich war der Erste am Morgen, und manchmal musste ich nochmals kommen, weil der «Sport», er kam dreimal in der Woche heraus, immer montags, mittwochs und freitags, noch nicht da war. «FC Küsnacht» suchte ich immer zuerst bei den kleingedruckten Resultaten, er spielte noch in der 1. Liga, und, keine Ahnung warum, in England interessierte mich «Tottenham Hotspur», - und: hat Jimmy Greaves, er faszinierte mich, ein Tor geschossen?

Tottenham? Längst völlig egal. Aber ich würde die Antwort finden, im Zeitungsständer neben mir, im «Can Mel» in Cas Concos, auf einer Seite sind die englischen Blätter aufgereiht, und natürlich könnte ich längst zum Handy greifen, das tun, was wir seit Jahren überall und ständig und auch süchtig auf der ganzen Welt tun, die Webseiten aufrufen. Tagi, Spiegel, NZZ, Süddeutsche, sie sind alle gespeichert. Ein Klick nur – ich lasse es, ich will nicht einmal mehr wissen, das ich es wissen könnte. Ich bin auf Entzug.

***

Radio höre ich jetzt, wieder im Oktober 2021 auf Mallorca, im Auto zurück vom kleinen Strand Cala sa Nau, das Licht am Abend auf der Insel ist wunderbar. In den Nachrichten berichten sie, dass es in diesem Jahr nirgends anderswo in Spanien so viele tropische Nächte gegeben hat wie auf Mallorca. 113 tropische Nächte seit dem Mai, 113 Nächte während denen es mindestens 20 Grad warm blieb.

Das wunderbare Licht am Abend auf Mallorca.

In Zürich, lese ich, auf dem Smartphone, dass es regnet und 10 Grad kühl ist. Hatten wir in Zürich in diesem Sommer, der keiner war, überhaupt eine tropische Nacht?

***

Javier begleitet mich, es ist jetzt wieder der Oktober 2014, zu den alten Männern, die jeden Tag auf ihren Stühlen sitzen, an der Strasse, die durch Cas Concos führt. Was reden sie, wenn sie reden und nicht schweigen?

Javier fragt sie. Sie schauen sich an, die alten Männer. Und schweigen zuerst. Und reden dann untereinander und durcheinander, lachen zwischendurch und finden es komisch, dass einer wissen will, worüber die reden, von morgens bis abends.

Javier übersetzt und sagt, sie reden, wie alle reden in den Dörfern, und als er ein Jahr in Berlin gewesen war, hätten sie auch in seinem Quartier so geredet. Darüber, was andere tun würden, jene, die gerade vorbeilaufen und jene, die vielleicht gerade vom Tisch aufgestanden und weggegangen sind, Klatsch halt, Dorfklatsch wie überall auf der ganzen Welt.

Javier vom Bistro «Can Mel».

Ich frage: Reden sie über Fussball und vielleicht auch über die Liebe, ihre verflossene, ihre Sehnsüchte? Javier fragt, sie lachen laut, Fussball natürlich, Real Mallorca sei eine Katastrophe, sie würden noch absteigen in die dritte Division. Und? «Amor?», natürlich, «sí, sí», sie lachen jetzt laut, reden lange, und Javier sagt nachher, das könne er nicht übersetzen, sie hätten von früher gesprochen, von ihren Eroberungen, aber heute, da gäbe es zu wenige Frauen im Dorf.

Lesen sie Zeitung, die von der Insel wenigstens, interessiert es sie, was passiert auf der Welt? Sie lachen wieder, und Javier übersetzt: Ihre Welt sei Cas Concos, die Strasse hier, sie würden sich doch keine andere Sorgen machen wollen.

50 Meter entfernt von ihnen steht der Zeitungsständer, mit allen Schlagzeilen, welche die Welt liefert, jeden Tag wieder neue, und ich denke, in diesem Moment: Verpassen wir wirklich so viel, wenn wir nicht wissen, was gestern war? Was habe ich verpasst?

Ich werde es nachlesen, denke ich in diesem Oktober 2014. Bald. Aber ich weiss, dass es nicht wichtig ist, immer zu meinen, alles wissen zu müssen. Oder denke ich nur so, weil ich weiss, dass ich bald wieder alles wissen kann? Mehr als nur Schlagzeilen. Und wo ich auch in Cas Concos meine täglichen Zeitungen finden würde?

***

Der Himmel ist blau, nur blau, die Sonne erwacht über dem Osten der Insel, sanft sind noch die Strahlen, aber der Kirchturm von Cas Concos leuchtet schon hell im Morgenlicht, im Inselradio sagen sie, kurz vor den Nachrichten um acht, es ist jetzt wieder der Oktober 2021: «Zürich, wolkig, 1 Grad - 1 Grad! -, auf der schönsten Insel der Welt nur Sonnenschein, Höchsttemperaturen 26 Grad.»

Der Kirchturm von Cas Concos.

Das Can Mel ist noch geschlossen, es öffnet am Montag später, so trinke ich den Café con leche in einem anderen Bistro oben an der Strasse, es sitzen auch hier nur Männer an den Tischen, auf einem grossen Bildschirm zeigen sie Bilder aus Spanien und der ganzen Welt, es ist eine Nachrichtensendung, aber keiner schaut hin. Sie reden am Tisch über irgendetwas, sicher auch über Real Mallorca, die Fussballer von der Insel sind wieder in die 1. Division aufgestiegen, an diesem Wochenende aber spielfrei, die Selección Española stand im Final der Nations League.

Die alten Männer im Bistro würden es nicht merken, wenn Whatsapp und Facebook an diesem Morgen wieder eine Störung hätten.
(Fortsetzung folgt.)

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!