Alle vier Jahre

Gesehen, gelesen, gehört – Der Katar-Blog (Nr. 3)
 

Alle vier Jahre kommt das Fieber, mal stärker, mal schwächer, diesmal verbunden mit einem schlechten Gewissen, das wir aber schon immer wieder hätten haben müssen, 1978 mit den Greueltaten der argentinischen Militärjunta, zuletzt 2018 in Russland, als wir Putin noch hofierten. «Wir haben uns alle in Russland verliebt», sagte Fifa-Präsident Gianni Infantino nach dem Turnier.

Alle vier Jahre ist eine Fussball-Weltmeisterschaft, blenden wir aus, was sonst Schlimmes auf der Welt passiert, wollen wir uns ablenken und verdrängen, schalten den Verstand aus und reden mit Leuten, mit denen wir sonst kaum reden, weil wir eine Leidenschaft teilen. Der Ball führt zusammen, jung, alt, über Grenzen hinweg, weltweit, wir tragen Spiele im Kalender ein und verschieben Dates und wollen während den 90 Minuten nicht wissen, welch dreckiges Geschäft der grosse Fussball längst ist. 

«Das ist dumm, das weiss ich, aber es ist nicht meine Schuld», sagte einmal Jorge Valdano, selber Weltmeister (1986 mit Argentinien) und inzwischen einer der klügsten Denker über Fussball. 

Wir fühlen uns kurz in einer heilen Welt und wachen nach dem Abpfiff wieder auf.

Viele sagen, sie werden diesmal sicher nicht hinsehen, würden die WM boykottieren - und schauen dann vielleicht doch, versteckt irgendwo unter einer Decke, mit heruntergezogenen Läden und sagen es niemandem. Und was ist, wenn die Schweizer so gut sind, wie sie meinen, sie seien es, wenn plötzlich am 6. Dezember der Achtelfinal gegen vielleicht Ronaldos Portugal ansteht, dann am 10. Dezember vielleicht der Viertelfinal gegen Belgien?

Und wir erzählen in diesen Tagen von früher, wir wissen, je nach Alter Jahrzehnte zurück, wie es damals war, was von uns im Kopf blieb.

Ich mache es auch.

1962, ich war ein Kind, WM in Chile, wir hatten keinen Fernseher zuhause, und die Bilder waren sowieso schwarz-weiss, aber die Farbe grün sehe ich heute vor Augen. Wieso eigentlich? Ich fand kein farbiges Foto, erst später gab es solche. Dieses Grün des Pullovers von Torhüter Charly Elsener, das wunderbare grelle Grün; er war mein erstes Idol, blieb es, und vielleicht versuchte ich mich später nur wegen ihm als begrenzt talentierter Torhüter, wenn möglich in einem grünen Pullover, später hatte ich gar einen von ihm, signiert. Ich war so stolz.

Charly Elsener, 1962: Parade in schwarz-weiss – aber dieses Grün seines Pullovers!

1966 in England, ich weiss nicht mehr, wo und wie ich das Spiel gesehen habe, aber die Frage bleibt bis heute: Tor oder nicht Tor? Der Schuss des Engländers Geoff Hurst im Final im Wembleystadion in London an die Lattenunterkante, von dort auf die Linie (99,9 Prozent sicher), hinter die Linie (0,01 Prozent), unser Schweizer Schiedsrichter Dienst, der es nicht wusste, der sowjetische Linienrichter Bachramow, der es auch kaum sehen konnte, dann aber zu Dienst schrie: «Is Gol! Gol! Gol!”

1970 in Mexiko, ich weiss noch, ich sass nach Mitternacht in der Stube meiner Eltern, die Bilder an unserem Fernseher, den wir seit der ersten Mondlandung ein Jahr zuvor jetzt hatten, waren noch schwarz-weiss. Ich war fasziniert von diesem Spiel, Deutschland gegen Italien, Halbfinal im Aztekenstadion in Mexico-City. Beckenbauer mit seinem rechten Arm in der Schlinge, 1:1 nach Verlängerung, 3:4 am Ende. Es war, sagte man später, das Jahrhundertspiel.

1974 in Deutschland, ich war ein ganz junger Reporter, durfte für die Zürichsee-Zeitung mit meinem Fiat quer durch das Land fahren. Und damals zum ersten Mal die Radio-Reporter aus Brasilien erleben. Sie schrien, stöhnten, predigten und heulten schon eine Stunde vor Spielbeginn in ihre Mikrofone und machten es auch eine Stunde nach dem Abpfiff noch. Einer schilderte, atem- und pausenlos, den Spielverlauf, ein zweiter, mit einem riesigen Sombrero und einem dicken Stumpen, durfte die Mannschaft nur vorstellen und später die Auswechslungen bekanntgeben, ein dritter meldete sich alle drei Minuten und schrie wild gestikulierend einen Werbetext nach Brasilien, und der vierte war für die Analyse zuständig, er stampfte, verwarf Hände, klagte und paffte eine Zigarette nach der anderen.

Für mich blieb dieses Radio-Kabarett mehr in Erinnerung als jedes Spiel meiner ersten WM.

1978 in Argentinien, diese bizarre WM im Land der Folterer, es war Winter dort und meistens sehr kalt - und wenn ich nachlese, was ich damals geschrieben habe und mir im Land aufgefallen ist, über das Lächeln der Leute, ihre warme Herzlichkeit, ihre optimistischen Gesichter, ihren Glauben an eine schöne Zukunft und ihre grosse Leidenschaft für den Fussball sowieso, dann frage ich mich: War ich naiv, blind?

1982 in Spanien, ein Spiel nur, keines im WM-Turnier, in einem kleinen Dorf im Hinterland von Barcelona, auf einem kleinen Platz, der Wald in der Nähe, Schafe auf einer Wiese. Die Brasilianer, die wunderbaren Brasilianer, die vielleicht nie besser waren als damals und doch nicht Weltmeister wurden, mit Zico und Socrates, spielten ein Trainingsmätschli gegen eine lokale Auswahl. Und im Tor stand der Kellner, der uns abends zuvor in einem Restaurant bedient hatte. Er musste den Ball immer wieder aus seinem Netz holen, elf- oder fünfzehnmal, ich weiss es nicht mehr. Er war aber stolz.

Die Hand Gottes, der Kopf Maradonas

1986 in Mexiko. Der vielleicht schönste Satz, den ein Fussballer je sprach: «Es war halb die Hand Gottes, halb der Kopf von Maradona.» Diego, unvergesslich. Und sein zweites Tor im Aztekenstadion vor 115 000 Zuschauern, sein Maradona-Marathon-Dribbling, mehr als über den halben Platz, zwölf Sekunden lang, zuerst eine Pirouette, dann rechts, links, links, rechts, links, zwölf Ballberührungen über zweiundfünfzig Meter, an sechs Engländern vorbei. Schöner kann ein Tor nicht sein. Für die Fifa ist es «El Gol del Siglo», das Tor des Jahrhunderts.

1990 in Italien, war es die schönste WM, weil sie in Italien war? Sicher jene mit einem Lied, das einen jeden Tag überall begleitete: «Un’estate italiana», von Nannini und Bennato. Verzauberte Nächte/Einem Goal hinterher/Unter dem Himmel/Eines italienischen Sommers heisst der Refrain. Und er, natürlich, Salvatore Schillaci, den sie nur Totò riefen, der Sizilianer, sein stechender Blick und seine grossen Augen, sie leuchteten nur in diesem italienischen Sommer.

Ich schrieb damals im «Tages-Anzeiger» eine tägliche Kolumne über die «Famiglia Galli.» Bitte, lasst mich weiter träumen, hatte Schillaci während der WM einmal gesagt, als ganz Italien in Ekstase war. Fabio, der Sohn der Galli-Familie, sagte nach dem Ausscheiden der Italiener: «Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten früher geschwiegen. Wenn man still ist, kann man besser träumen.» 

1994 in den USA. Die Schweiz spielte in Detroit gegen Rumänien, ich war im Flugzeug von Chicago nach San Francisco unterwegs, der geplante Zeitplan war, das Spiel im Hotel zu verfolgen. Der Flug hatte Verspätung. Ich sass im Mietwagen. Den Weg zu meinem Hotel hat mir eine Frau im Büro des Autovermieters erklärt. Ganz einfach sei es, nur fünf Meilen, zehn Minuten, fahren Sie so und so, sagte sie freundlich. Alles kommt gut, dachte ich.

Ich war schon 30 Minuten unterwegs. Was hatte sie gesagt? Left oder right? 101 Freeway South? Oder eher Nord? Es schien doch so einfach. Beim Spiel in Detroit musste Halbzeit sein. Ich drehte am Autoradio, hoffte, einen Sender mit Fussball zu finden. Hörte Country-Musik und, wenigstens den – Bruce, den Boss. «Sorry dear man, aber ihr Hotel liegt ganz in der anderen Richtung, sie müssen da vorne, nach ungefähr fünf Meilen, einen Turn around machen», hörte ich von einem, den ich verzweifelt nach dem Weg fragte. 

Ich sah viele Hotels, Best Western, Days Inn, Comfort Inns, einige mehr, es hatte nur Hotels und Imbissbuden, nur meines, das Hyatt, nirgends. Oder erst nach einer weiteren Viertelstunde. Einchecken, schnell und hektisch, Zimmer in einem anderen Gebäude, nochmals fünf Minuten, Tür auf, TV an - und, tatsächlich, sie spielten noch, eben wurde es eingeblendet, 3:1 für die Schweiz, das 4:1 sah ich dann live. Das Zimmertelefon schrillte. «Sir, Sie haben alle ihre Unterlagen an der Rezeption liegengelassen, ihren Pass, ihr Geld, die Kreditkarte und ihre Akkreditierung.»

1998 in Frankreich, Zidane 1. Er sass, nachdem die Franzosen, vor allem dank ihm, Weltmeister geworden waren, alleine hinten im Bus, der die Mannschaft zurück in ihr Quartier brachte, vor ihm tanzten ausgelassen seine Mitspieler, und Zehntausende standen jubelnd am Strassenrand. Aber Zinédine Zidane hob nur zaghaft winkend seine Hand, mit seinen melancholischen Augen und dem mönchenhaftem Blick.

Pelé, Maradona, Messi, Di Stefano, Cruyff, Beckenbauer? Wer ist der Beste der Besten? Ich sage immer Zidane, sehr subjektiv, aber ihm zuzusehen war Poesie. Zizou war sein Übername, zärtlich tönt es so: Si-su.

Finalticket für 2002 in Yokohama

2002, in Japan (und Südkorea). Über Oliver Kahn hatte ich an diesem Tag eine grosse Geschichte geschrieben, «Der Mann im Tor ist auf dem Gipfel». Man sprach nicht von Deutschland, sondern vom Kahn-Land, er gegen alle, so gut, und er war oft überragend, war er vielleicht noch gar nie. Und jetzt sass er an diesem verregneten Abend im Stadion von Yokohama bei Tokio auf dem Boden, an einen Pfosten gelehnt, die Hände in die Hüfte gestützt, die Augen irgendwohin gerichtet, ins Leere, untröstlich war er. Einen Schuss Rivaldos, den er sonst in 999 von 1000 Fällen und auch halbblind abwehren würde, hatte er fallen gelassen, vor die Füsse von Ronaldo, dem Brasilianer. Aus. Verloren.

Kahn, dieser Titan im Tor, den er seinen Käfig nannte, fast immer grimmig, finster dreinschauend, ständig in einem Tunnel, war mir nie besonders sympathisch, er biss einmal einen gegnerischen Stürmer ins Ohr, schüttelte eigene Mitspieler, brüllte mit zugekniffenen Augen umher - aber jetzt, in diesem Moment, hatte ich Mitleid. Torhüter haben einen so einsamen Job. Ich weiss es doch.

2006 in Deutschland. Zidane 2. Wieder er allein, die Bilder sah man erst später in einem Dokumentarfilm. Diesmal in der Kabine, mit Tränen in den Augen, ganz verstört, er schlägt mit seiner Hand gegen eine Wand, wirft das Trikot auf den Boden, putzt das Gras zwischen den Stollen seiner Schuhe heraus, leer sein Blick. Minuten zuvor hatte er beim Final in Berlin seinen Kopf in den Brustkorb des Italieners Materazzi gerammt, wie ein rasender Stier, nachdem er von diesem beleidigt worden war.

Sein Abgang, sein allerletztes Spiel. Und beides gehörte eben zu Zidane, sein scheuer Blick und sein Jähzorn. Ich litt in Berlin auf der Tribüne mit ihm.

Zinédine Zidane und sein Abgang in Berlin

2010 in Südafrika. Ich blieb zu Hause aus privaten Gründen.

2014 in Brasilien. Meine letzte WM vor Ort in Rio, nur für das Finale, ein wunderbares Abschiedsgeschenk nach meiner Tagi-Zeit. Erstmals in diesem legendären
Estádio do Maracanã. Shakira rockte zuerst auf der Bühne, und ich überlegte, es wäre ja auch denkbar gewesen, dass Shaqiri jetzt spielte, so viel hatte ja nicht gefehlt gegen die Argentinier, die jetzt im Final waren. Und gegen die Deutschen verloren. 

Das Spiel war längst zu Ende, ich war lange geblieben und einer der Letzten, der das Stadion verliess. Dann kehrte ich nochmals zurück, stand oben auf der Treppe und sah zum Rasen runter, er war übersät von Konfetti und deutschen Fähnchen, ich blickte in diesen riesigen Tempel des Fussballs. 

Ich liebte diese Momente immer, ging bei Spielen meistens schon lange vor dem Anpfiff hin - Stadien, die sich langsam mit Leuten füllen, der Lärm, der ansteigt wie Wellen, die immer grösser werden, diese Anspannung, und dann nachher: Stadien, die wieder leer werden, die Stille, die zurückkehrt, fast etwas Melancholie, wie ein Friedhof jetzt, und auch hier Erinnerungen an das, was eben war.

2018 in Russland, und (fast) alles, was jetzt über Katar geschrieben und gesendet wird, hätte schon damals geschrieben und gesendet werden können oder müssen. Im Kopf bleibt ein Bild, jetzt nur noch als Zuschauer zu Hause, nochmals Diego Maradona, der uns mit dem Ball verführte und selber immer wieder verführt wurde, der Mann der Extreme.

Die traurige Seite an ihm. Wie er sich auf der Tribüne im Stadion in St. Petersburg auf der Tribüne während einem Spiel seiner Argentinier aufführte, dick und aufgedunsen war er, mit ausgestrecktem Mittelfinger, sich weit über die Brüstung lehnend, eine Fahne in der Hand und drauf natürlich Maradona, Zigarre im Mund. Er schien vollgestopft mit Drogen, welcher Art auch immer. Und musste ins Spital überführt werden, Kreislaufprobleme. Zwei Jahre später starb Maradona.

Jetzt also 2022. Katar. Und trotz allem:

Alle vier Jahre, und immer wieder dieses Fieber. Für das Spiel. Nicht für den Ort, wo gespielt wird. Nicht wie sonst oft auch.
 
 
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