Verliebt, vorübergehend


Fredys EM-Blog – Nr. 14

In elf Städten in elf Ländern, es ist eine sonderbare Fussball-Europameisterschaft in eigenartigen Zeiten. In diesem EM-Blog mache ich mir meine Gedanken zum Turnier, das in diesem Sommer stattfindet, aber immer noch Euro 2020 heisst.

Verliebt, vorübergehend

Schlagzeilen zu einer Mannschaft.

Menschen verlieben sich in eine Mannschaft, gar in ein Land, stand irgendwo geschrieben, es gab bei uns kaum ein anderes Thema mehr in diesen Euro-Tagen, wir liefen wenigstens in Gedanken in Rot durch das Leben, und einer aus dem Iran sagte, er hätte 30 Jahre gewartet, bis die Schweizer einmal ausflippen würden, und jetzt habe er es erlebt. Wir zeigten Emotionen, die wir gar nicht ahnten, sie zu haben.

Und es erinnert mich an ein anderes Jahr, 2006, die Weltmeisterschaft in Deutschland. Es war wirklich Sommer damals, die grauen Wolken, die vorher seit Wochen über Deutschland lagen, verschwanden über Nacht irgendwo in der hintersten Ecke der Welt, es war, als der erste Ball gespielt wurde, nur noch schön und heiss, fast tropisch und immer blau, wochenlang, und dann schrieb man von einem Sommermärchen, Sönke Wortmann machte einen Film mit diesem Namen, alle waren berauscht.

Der deutsche Philosoph und Sportsoziologe Gunter Gebauer schrieb in einer Kolumne in der «Berliner Zeitung»: «Das Bild unseres Landes, das in diesen Sommernächten entsteht, ist nicht das wirkliche Bild Deutschlands, aber das Bild eines Landes, das man sich in Deutschland wirklich wünscht. Die Kinder wünschen sich die Erwachsenen so fröhlich wie in den letzten Wochen.» Es war eine landesweite Party.

Wir wissen inzwischen, dass es eben mit diesen Erwachsenen nicht ganz so märchenhaft war, und verschobene Gelder, undurchsichtige Zahlungen über irgendwelche Konten und obskure Verträge dazu geführt hatten, dass diese WM überhaupt in Deutschland stattfand, und das «nationale Glücksschwein», wie die «Süddeutsche Zeitung» vor dem Turnier über Franz Beckenbauer schrieb, seither keine Lichtgestalt mehr ist, die unantastbar über allen schwebt.

Im Rausch.

Über dem Sommermärchen liegt ein dunkler Schatten, und von Jogi Löw, der so viel dazu beigetragen hatte, dass die deutschen Fussballer damals für diesen schwarz-rot-gelben Rausch sorgten, und dann vom Assistenten zum Bundestrainer aufstieg, gab es in diesen Tagen dieses letzte Bild: Wie er im Wembleystadion nach der Niederlage gegen England im Kabinengang verschwindet, den Veston unter dem Arm, einsam und nicht mehr verstanden. «Nichts hören, niemanden sehen, vielleicht eine rauchen» beschrieb die «Süddeutsche» das Bild, Löw sei ein bisschen sehr wunderlich geworden in all den Jahren.

Deutschland jammert über seine Fussballer. Der Dramatiker Moritz Rinke schrieb in einem Essay in der «FAZ»: «Warum hat niemand sein Herz in die Hand genommen? Habt ihr die Schweiz gegen Frankreich kämpfen gesehen? Ausgerechnet die Schweiz zeigt uns, was Leidenschaft ist! Die Schweiz!!» Und im «Spiegel» stand: »Fussball lebt von Leidenschaft. Wer für das Spiel brennt, kann auf dem Platz wahre Wunder bewirken.» Der epische Kampf der Schweizer gegen Weltmeister Frankreich sei einer der emotionalen Höhepunkte des Turniers gewesen.

Rote Liebe.

Es war, wie wir heute wissen, kein Sommermärchen damals; es ist jetzt keines geworden, schon aus dem Grund, dass es bei uns gar nicht richtig Sommer ist. Aber verliebt durften wir sein.

Wie oft haben solche Gefühle ein abruptes Ende. Am Dienstag spielt Italien gegen Spanien. Wir wären ausgeflippt, nochmals. Und verliebt geblieben.

Leider nicht: Schweiz-Italien.



 

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