Weg auf die Insel

 

«Entschuldigen Sie», die Stimme der Stewardess auf dem Flug LX 2158 war sehr höflich, sie lächelte, und ich sass auf dem Sitz 36K, das scheint sehr weit hinten, war es aber nicht, das Flugzeug war gross, eine Boeing 777-300ER, sie war voll, die halbe Schweiz schien an diesem Samstag auf die Insel Mallorca zu fliegen. Endlich wieder Meer, andere Luft, nochmals Sonne, nochmals Sommer, der doch bei uns keiner war. Zwei Jahre ist es her seit dem letzten Flug.

«Entschuldigen Sie», ich führte meine Hand sogleich zur Nase, und, oh ja, meine schwarze Maske war nicht ganz richtig aufgesetzt, lag etwas tiefer, als sie korrekt sein müsste.

«Entschuldigen Sie», sie wollte sicher das sagen und mich darauf aufmerksam machen, sie lächelte immer noch, aber sie deutete mit ihrer Hand auf etwas anderes, eine Zeitung lag auf meinen Knien, es waren mehrere Zeitungen, es war Samstag, und die Zeitungen waren dicker als unter der Woche, nur ist es ziemlich eng in diesen Fliegern, und Zeitungen in den Händen zu halten und zu lesen nicht ganz einfach.

«Entschuldigen Sie», ihr Lächeln, ich lächelte auch, «entschuldigen Sie, sind Sie angeschnallt?» Ich war es nicht.

Es gibt noch andere Gefahren, wenn man fliegt, endlich wieder mal fliegt. Zu meiner tief hängenden Maske sagte sie nichts.

***

Hier ein Textabschnitt, den ich vor sieben Jahren geschrieben hatte, ich brauchte damals, 2014, auch eine Auszeit auf dieser Insel.


«Can Mel» heisst das Bistro an der Carrer Major, einer Seitengasse im kleinen Kaff Cas Concos mit 550 Einwohnern im Südosten von Mallorca. Es ist Sonntagmorgen, bereits 25 Grad, die ersten Sonnenstrahlen an einem fast wolkenlosen Himmel, die Hühner gackern, die Ziegen meckern und die Hunde bellen, und von irgendwoher schreit auch ein Esel, Feldhasen rennen durch das Gelände, eine heile Welt.

Das kleine Dorf im Südosten von Mallorca.
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Neben mir im «Can Mel» steht ein Zeitungsständer, mit spanischen, englischen und auch deutschen Zeitungen. Er wird jetzt sechs Wochen lang jeden Morgen neben mir stehen. Ich werde nie eine Zeitung kaufen, sehe jeden Morgen nur die Schlagzeilen, jene in grosser Schrift wenigstens, und die farbigen Bilder. Messi strahlt mit Neymar (Barcelona muss gewonnen haben), auch Ronaldo im Dress von Real Madrid muss glücklich sein, Messi und Neymar und Ronaldo sind fast jeden zweiten Tag auf den Titelseiten.

Javier, ich werde seinen Namen später erfahren, bringt noch einen Café con leche, Maria, es ist seine Abuela, seine Grossmutter, wie er mir erklären wird, sie steht jeden Tag hinter dem Ladentisch, der auch zum «Can Mel» gehört. 81 ist sie, schleppt schwere Tüten von einem Haus zum anderen, «Buen dias», sie lächelt. Wir werden uns noch sehr oft anlächeln, und sie wird mir ihre grosse Familie vorstellen, irgendwie verstehen wir uns immer, auch wenn wir uns sprachlich kaum verstehen.

Der «Migros» von Cas Concos.

Die alten Männer sitzen auch an diesem Morgen auf ihren Stühlen oben an der Carrer del Metge Obrador, die durchs Dorf führt, die (wenigen) Autos müssen manchmal ausweichen, damit sie vorbeikommen, die Stühle stehen weit draussen auf der Strasse. Und die Männer sitzen morgens um acht, und manche - und oft die gleichen - sitzen auch abends um zehn noch, auf dem gleichen Stuhl, sie reden, sie schweigen, sie reden laut und gestikulieren dazu, sie schweigen auch laut, so dünkt es einen, sie reden ohne Worte miteinander, rauchen eine Zigarette, vor sich ein Glas oder auch der siebte café.

Ich schaue ihnen oft zu, und eine Stelle aus dem wunderbaren Buch «Die Frau auf der Treppe» von Bernhard Schlink, das ich lese, kommt mir in den Sinn: «Immer wenn ich in einem fremden Land bin, frage ich mich, ob ich hier glücklich wäre. Wenn ich durch die Strassen laufe und an einer Ecke Menschen zusammensitzen und reden und lachen sehe, denke ich, wenn ich hier lebte, stünde ich jetzt auch fröhlich mit anderen um diese Ecke?».
    
***

Ich, es ist jetzt Oktober 2021, bin gleich nach der Landung in Palma wieder hierher gefahren, nach Cas Concos, ich wollte wissen, wie es aussieht, drei Jahren war ich nicht mehr da, es ist irgendwie meine zweite Heimat geworden oder einfach ein Ort, der mir nahe ist, und ich konnte ihn nicht mehr besuchen, wegen dieser Pandemie.

Es ist alles wie damals, fast. Das Restaurant, die kleine Pension mit den vier Zimmern, die es vor sieben Jahren noch nicht gegeben hatte, erst beim letzten Mal 2018, der Dorfladen, der Migros von Cas Concos, wie ich jeweils sage, weil es alles hat, auf nur viel kleinerem Raum und hoch bis zur Decke, wirklich alles, wenn man es auch findet.

Mein Ort: Javier vor dem «Can Mel» in Cas Concos.

Javier ist der Chef, vom Restaurant, von der Bar, der kleinen Weinhandlung, und das Restaurant ist grösser geworden, neben Tapas und anderem gibt es nun auch eine japanische Karte, «du musst unbedingt versuchen», sagt Javier, und es hat einen wunderbaren Innenhof und gar einem kleinen Pool. Ich bin wieder zu Hause, in meiner zweiten Heimat, in meinem Cas Concos, Cas Concos des Cavaller heisst es korrekt, das inzwischen, so lese ich, 877 Einwohner hat, ein deutscher Verleger hat über das Dorf einen Bildband herausgegeben.

***

Vor sieben Jahren schrieb ich so weiter:


Ich bin glücklich. Und vieles ist nicht mehr fremd. Maria, die 81-Jährige, lacht, als ich nach ihrem Mann frage, er sitzt manchmal etwas versteckt hinten im Laden auf einem Stuhl, er ist 84, redet kaum, schaut meistens auf einen Monitor, weil selbst hier haben sie oben an der Decke eine Kamera, die alles im «Can Mel» überwacht. «Mi esposo?», oh, sie schmunzelt, er sei beim Znüni, sie deutet es mit den Händen an, und der Znüni gehe manchmal lang, es ist schon Mittag, «wissen Sie, hier arbeiten die Frauen». Sie schmunzelt.

Marias Ehemann, Jaime heisst er, sitzt jetzt wohl auch oben an der Strasse. Maria ist fast immer da, morgens früh und abends spät noch, im Dorfladen, der auf 40 qm so viel anbietet wie bei uns der Migros oder der Coop, ihre Tochter Pilar, die Mutter von Javier, hat ihn seit einem Jahr offiziell übernommen, Enkelin Marina hilft auch mit.

Den Café con leche nebenan bringt mir Javier inzwischen ungefragt. Neben mir, am Zeitungsstand, ein grosses Bild von Ronaldo, und kleiner die Klubembleme von Real und Basel. Basel? Es muss an diesem Abend – welcher Tag ist es? - ein Champions-League-Abend sein, «20.45, TVE» steht daneben. Javier sagt, sie hätten ein TV-Gerät drinnen in der Bar, «komm, komm doch am Abend vorbei», er spricht ein wenig deutsch, weil er mal kurz in Berlin gelebt hatte. Ich lächle, «no, no», ich erkläre aber nicht wieso, ich denke, er könnte das nicht verstehen, einer, der nicht mehr wissen will, was er doch immer wissen und sehen und erleben wollte. 40 und mehr Jahre lang.

2014: Javier mit seinem Kind, Grossmutter Maria, Mutter Pilar.

Worüber reden die Männer an der Strasse? Reden sie auch darüber, worüber Leonard Cohen singt, den ich abends höre, auf seiner neuen CD «Popular Problems». Über ungestillte Liebes- und Lebenslust, Hoffnungen und Einsamkeit, der ewige Verführer mit seinen oft düsteren Worten, auf dem bluesigen Song «Slow» tönt es so: «Ich mochte es immer langsam, ich mochte es nie schnell, bei dir soll es weitergehen, bei mir soll es bleiben, es ist nicht, weil ich alt bin, es ist nicht, weil ich tot bin, ich mochte es immer langsam, das hat meine Mutter schon gesagt.»

Cohen, eben achtzig geworden, stützt sich auf dem CD-Cover auf einen Spazierstock. Wie manche alte Männer hier auch, wenn sie irgendwann einmal doch noch aufstehen, manchmal erst gegen Mitternacht. Denken sie manchmal auch so, wenn sie hier stundenlang sitzen, wie Cohen am Ende auf «Did I Ever Love You», mit seiner rauchigen Stimme singt: «Hab’ ich Dich je geliebt? Ist es wirklich von Bedeutung? Hab’ ich dich je bekämpft? Du brauchst nicht zu antworten. Hab’ ich dich je verlassen, war ich je fähig dazu?»

Ich weiss es nicht. Und abends höre ich, jetzt in Santanyi, dem Dorf nebenan, Stimmen aus einer Bar, und sie diskutieren, und der Fernseher läuft, Fussball wird gezeigt. «Messi!!», schreit einer, und ich laufe vorbei, Barcelona spielt also, es ist Mittwoch, wohl auch wieder Champions League.

***

Javier begrüsst mich herzlich, jetzt wieder im Oktober 2021. Seine Grossmutter Maria, sie ist inzwischen 88, ist immer noch im Laden, nicht mehr jeden Tag, sie lächelt auch jetzt, ich weiss nicht, ob sie mich noch erkennt, aber sie lächelt so, dass ich denken muss, sie erkennt mich, trotz Maske, die wir auch hier tragen müssen. Nur im Restaurant fragt niemand nach einem Zertifikat. Über 80 Prozent der Bewohner auf Mallorca sind geimpft.

Marias Mann, Jaime, ist vor einem Jahr gestorben, erfahre ich, oben an der Strasse durch das kleine Dorf, wo damals vor sieben Jahren Jaime und die alten Männer schon morgens früh sassen und ihren Café tranken, ihren siebten Espresso, oder auch ein Glas vor sich hatten, weil sie lange sitzen blieben, sitzt niemand mehr, dieses Bistro gibt es es nicht mehr, das Haus ist renoviert, die Läden aber sind geschlossen.

Das Bistro an der Ecke gibt es nicht mehr.

Und noch etwas ist anders. Den Ständer mit den Zeitungen vor der Bar im «Can Mel» gibt es auch nicht mehr, ich kann auf den Titelseiten keine Schlagzeilen mehr lesen, ich würde vielleicht einige Zeitungen kaufen, auch wenn ich die Sprache von den spanischen Blättern kaum verstehe, aber eigentlich interessiert es mich gar nicht mehr so sehr. Damals setzte ich mich bewusst auf Entzug, jetzt ist es freiwillig, ich musste weg auf die Insel.

Messi hat Barcelona verlassen, obwohl er bleiben wollte, Paris ist jetzt verliebt in ihn, ihren «Messiiiiii», und Leonard Cohen ist auch gestorben, vor zwei Jahren ist noch eine CD herausgekommen, «Thanks for the Dance», eine posthum veröffentlichte, mit allerletzten Worten und Geschichten des kanadischen Poeten, düster und heiter sind sie. Danke für den Tanz, die Krise war leicht wie eine Feder, heisst es darin.

Die Krise ist weit weg, denke ich, hier in Cas Concos. In meinem Cas Concos.

(Fortsetzung folgt).

Maria, 88, in ihrem Laden «Can Mel».

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