Messidona

Gesehen, gelesen, gehört –
Der Katar-Blog (Nr. 19)
 

 

Es gibt auf Youtube hunderte von Videos von ihm, seine Dribblings und Pirouetten, seine Pässe, seine Schüsse, seine Tore, Lionel Messi als fussballerische Kunstfigur. Und es gibt auch einige von früher, vom kleinen Messi, auf einem holprigen und nicht sehr grünen, sandigen Platz in Rosario, seiner Geburtsstadt in der Provinz Santa Fé in Argentinien, und im rot-schwarzen Leibchen seines Jugendclubs, den Newell’s Old Boys.

Achtjährig ist er auf diesem, seit kurzem spielt er im Verein, er ist kleiner als fast alle anderen, schmächtig und dünn, und die weisse Nummer 10, die er schon damals trug, ist fast grösser als das Leibchen. Und wie alle Kinder will er auch einfach den Ball. Alle Kinder rennen ihm immer nach, überall auf der Welt, auf einem Haufen meistens, und erst, wenn sie nicht mehr können, bleiben sie stehen. Aber er, der achtjährige Messi in Rosario, hat den Ball praktisch immer, er dribbelt und dribbelt und dribbelt, macht einen Haken, fällt um, steht gleich wieder auf, noch einen Haken, dribbelt weiter, und schiesst Tore, viele Tore. Seine Grossmutter, heisst es, soll ihn jeweils von der Schule abgeholt haben, und dann seien sie sogleich zum Training gegangen, und die Grossmutter hätte jeweils gerufen: Gebt dem Kleinen den Ball, der kann Tore schiessen. Er konnte es.

Lionel Messi, 8, und seine Dribblings (Video Youtube)

Lionel, «El Piqui», der Kleine, wollte immer den Ball, der Ball war alles für ihn. Er war scheu und meistens sehr schweigsam.

Später, er war jetzt 23 und spielte bei Barcelona und hatte schon einiges gewonnen, sagte Messi einmal: «Das letzte Mal, als ich wirklich unter Druck stand, war bei den Newell’s, als ich acht war. Danach habe ich nur noch aus Freude gespielt.»

II.

Die Bilder von damals zeigen, weshalb er der Lionel Messi von später und heute geworden ist. Wie er den Ball führt, wie der an seinem linken Fuss fast klebt, wie er aber auch immer weiss, was er tun will, offenbar schon damals mit den Augen spielt, aufschaut und ahnt, was als nächstes folgen soll - Messi mit 8 ist auch der Messi mit 35.

Lionel Messi, schnell in den Beinen - und im Kopf

Nur eines ist anders. Es ist nicht mehr das unbeschwerte Spiel der Kinder, es ist jetzt das ernste Spiel der Erwachsenen. Aber Messi ist immer noch das spielende Kind. Er dribbelt immer noch und führt den Ball immer noch wie mit Harz festgemacht an seinem linken Fuss. 

Doch Messi verhält sich auf dem Rasen anders. Er beteiligt sich seltener am Spiel, er schlurft immer wieder umher, meist auf der halblinken Seite zwischen Mittellinie und gegnerischem Strafraum; es scheint, er sei abwesend, dabei spielt sich das Spiel in solchen Momenten in seinem Kopf ab. Er ist nicht nur schneller mit seinen kurzen Beinen und seinen schnellen Bewegungen, er soll viereinhalb Schritte pro Sekunde machen, er ist auch schnell im Denken, sieht Lücken und Räume, bevor der Ball in seinen Füssen liegt. Seine Augen sind 90 Minuten lang wachsam. Seine Beine ruhen sich zwischendurch aus. Er ist als Fussballer wie ein Schachspieler, der viele Züge vorausdenkt, ständig Informationen sammelt.

Johan Cruyff, ein anderer Grosser des Fussballs, sagte einmal: «Er ist dieser grossartige Spieler, weil er Spass hat mit dem Ball und so spielt wie ein glücklicher kleiner Junge.»

III.

Von einem anderen gibt es auf Youtube auch viele Videos, und gewisse Filme könnte man aufeinander legen, sie wären austauschbar, da die beiden so viel Ähnliches haben. Nur Aufnahmen vom jungen Diego Armando Maradona sind seltener, es sind mehr Fotos, der kleine Diego auf einem Bolzplatz aus Villa Fiorito, einem Slum am Rande der Zwölf-Millionen-Stadt Buenos Aires, wo die Familie in einer ebenerdigen Baracke hauste. Diego, der Jongleur mit dem Ball auf dem Kopf, auf den Knien, in den Füssen, nie fliegt er auf den Boden.

Maradona und Messi, Argentinier, beide Linksfüsser, beide klein, Maradona noch drei Zentimeter kleiner als Messi (1.69 m), gleicher Körperbau, ganz verschiedene Typen, rebellisch der eine, sanft der andere, an seinem ausschweifenden Leben zerbrochen der eine, in sich ruhend der andere. 

Als Maradona bei der WM in Mexiko 1986 sein Jahrhunderttor schoss (und jenes mit der Hand Gottes) war Messi noch nicht auf der Welt.

Als Maradona zum Ende seiner turbulenten Karriere noch ein sehr kurzes Gastspiel bei den Newell’s Old Boys gab, war der junge Messi noch nicht im Klub, erst einige Monate später.

Aber heute ist die Frage: Wer ist der Grösste im Fussball – oder grösser als der andere?

Helenio Herrera, in Argentinien geboren, vor allem mit Inter Mailand als Trainer erfolgreich, er ist der Erfinder des Catenaccio, des bedingungslosen Verteidigens und wurde auch als «Totengräber des Fussballs» bezeichnet, sagte einmal: «Der Fussballer des 21. Jahrhunderts wird genauso sein wie Maradona. Eher klein, aber sehr athletisch, und mit diesem Zauber versehen, den die Computer und Maradona gemeinsam haben.»

IV.

Diego und Lionel Messi werden  bald viele Begegnungen haben.

Messi, der Spieler, Maradona, der Trainer

2005, Messi war gerade mit Argentinien U-20-Weltmeister geworden, der beste Spieler des Turniers, mit den meisten Toren. Noch auf dem Spielfeld in Holland gab ihm ein Journalist der »Gazzetta dello Sport» das Handy, Diego Maradona war am anderen Ende. «Was machst du gerade, du Monster?», soll er gesagt haben, und er habe den Wunsch, ihm sehr bald persönlich zu begegnen.

Maradona lud Messi in seine TV-Sendung «La Noche del 10» ein. Und Messi schilderte später die Begegnung einmal so: Er sei noch nie so nervös gewesen, seine Hände hätten geschwitzt, und Messi hat in der Sendung gesagt, es sei immer der Wunsch seiner Mutter gewesen, dass Maradona eines Tages Trainer ihres Sohnes werde. «Die Nummer 10 wird zu dir kommen» soll Maradona geantwortet haben. Sie haben dann im Studio Fussballtennis gespielt: Maradona (mit Francescoli) gegen Messi (mit Tevez).

Fussballtennis Messi gegen Maradona

2006 in Deutschland, die erste WM von Messi. Maradona war vor dem ersten Gruppenspiel in die Kabine gekommen, sei stark und mutig und schiess ein Tor, habe er zu Messi gesagt. In der 75. Minute wurde dieser gegen Serbien eingewechselt, er schoss das Tor zum 6:0. Messi spielte nicht oft bei dieser WM, im Viertelfinal gegen Deutschland gar nicht, was viele als einen grossen Fehler bezeichneten. Argentinien verlor im Elfmeterschiessen.

2008, Argentinien verlor oft, mit Messi jetzt als zentrale Figur. Maradona sagte: «Manchmal spielt Messi nur für Messi, er ist so arrogant, dass er seine Mitspieler vergisst.» Messi antwortete: «Wir sind es gewohnt, dass Diego seine Meinung äussert. Wir wissen alle, wie er ist.»

Einige Monate später wurde Maradona Nationalcoach von Argentinien.

2010, die WM in Südafrika. Am Tag vor dem letzten Gruppenspiel gegen Griechenland kam Maradona in das Hotelzimmer, um ihm zu sagen, dass er nun Captain sei. Messi war berührt und so nervös, dass er nicht schlafen konnte - aber nicht wegen der Binde, sondern weil der Captain jeweils vor einem Spiel ein paar Worte an die Mitspieler richten muss. Er habe kein Wort herausgebracht, heisst es.

Es kam in diesem Turnier wieder zu einem Duell gegen Deutschland, und es wurde zur Demütigung: 0:4. Maradona küsste nach dem Spiel vor den TV-Kameras Messi, der blickte aber nur ins Leere. Maradona war mehr Maskottchen als Trainer, ohne Konzept, Messi blieb ohne Tor. Maradonas Dummheiten waren stärker als die Mannschaft, schrieb die Zeitung «El Clarin», Messi hätte die ganze Verantwortung tragen sollen, aber er sei nun mal kein Maradona.

Maradona trat als Trainer sofort zurück, Messi überlegte sich, mit der Nationalmannschaft aufzuhören

2014, die WM in Brasilien. Maradona soll vor dem Turnier zu Messi gesagt haben: «Lio, ich will dir nur sagen, dass ich dich gerne habe. lass’ die reden, die sagen, dass du der Beste aller Zeiten bist. Das werden wir spüren, wenn deine Karriere vorbei ist. Vergnüg dich, sei glücklich mit deiner Familie.»

Messi schoss in Brasilien vier Tore, wurde zum besten Spieler ausgezeichnet, aber zuletzt war er todunglücklich, stand mit gequältem Lächeln auf dem Rasen des Maracanã-Stadions: Den Final, wieder gegen Deutschland, verloren. Es hiess, Messi sei der Unvollendete.

Maradona ausrastend in Russland

2018, die WM in Russland. Maradona war bei jedem Spiel der argentinischen Nationalmannschaft auf der Tribüne, aufgedunsen, wirr und laut und von Drogen gezeichnet, er rastete aus und kollabierte, ein Anblick, der wehtat. Und er sah auch, wie Messi mit Argentinien, diesmal im Achtelfinal, gegen Frankreich 3:4 verlor und ausschied. Kylian Mbappé, das grosse französische Talent, 19 damals, zweifacher Torschütze, tätschelte ihm nach dem Spiel den Kopf und tröstete ihn. Messi, 31 damals, und Argentinien war einmal mehr eine Geschichte des Scheiterns.

V.

Und jetzt? 2022 in Katar, Messi ist 35, Messi ist der beste Messi, den es vielleicht je gab, sicher im Nationalteam, konzentriert bis in seine linken Fusspitzen, viel aggressiver als er sonst ist, ein Leader für seine Mannschaft.

Maradona, Weltmeister 1986 mit Argentinien, sei ein Fluch für ihn, hiess es immer. Aber jetzt hat er die grosse und letzte Chance. Wird auch Messi mit Argentinien Weltmeister, 36 Jahre nach Maradona? Und wer wäre nun der Grösste?

VI.

«Wir haben keine Adjektive mehr für Messi. Mir fallen jedenfalls keine mehr ein, sie sind mir ausgegangen.»

Sagte einmal Pep Guardiola, sein Trainer bei Barcelona.

«Er ruft Begriffe hervor, er spornt unser Sprachgefühl an, unsere Erfindungsgabe, weckt die naheliegende Assoziation, die Poesie. Wir haben das Bedürfnis, in Worte zu fassen, was wir sehen, wir wollen seinen Aktionen sprachlich gewachsen sein.»

Sagte Jordí Puntí, ein katalanischer Schriftsteller

Der Schriftsteller Marc Pator schlug ein neues katalanisches Adjektiv vor: Mèssim, als messistisch.

MESSISTISCH (21 Jh., nach dem Nachnamen Messi, bekannt durch Lionel Messi. 1. Adj: im Fussball brillierend, hohes technisches Können, Ausdauer, Qualität, Kraft in einem Spiel, bei einem Spielzug oder einem Tor zeigend. 2.Adj.: bezogen auf das Fussballspiel, dem Ausscheidungskampf oder das Finale, in dem Lionel Messi eine Glanzleistung gezeigt hat.

VII.

Wer ist nun der Beste?

«Diese Debatte … das ist doch alles nur Bar-Geschwätz»

Sagte Johan Cruyff.

Stimmt.

Die Frage, wer nun der Grösste der Grossen sein soll, ist doch gar nicht so wichtig. 


Jubelt Messi mit Argentinien auch im Final?


Quellen. Die Bücher: «Messi» von Guillem Balague. -«Messi. Eine Stilkunde» von Jordí Punti. - «Messi. Ein Junge wird zur Legende» von Luca Caioli. - Und diverse Zeitungstexte.
 
Mehr zu Messi: Blog-Nr. 17: 10 gegen 10 

 
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