Das Glück im Wembley
Fredys EM-Blog – Nr. 9
In elf Städten in elf Ländern, es ist eine sonderbare Fussball-Europameisterschaft in diesen Zeiten. In diesem EM-Blog möchte ich über beides schreiben, Gedanken zum Turnier, das in diesem Sommer stattfindet, aber immer noch Euro 2020 heisst, manchmal nur mit Bildern – aber auch mit Texten von früher zeigen, wie es einmal war, als eine EM nur in einem Land (oder höchstens zwei Ländern) ausgetragen wurde. Einige Erlebnisse von damals.
Kolumne in der SonntagsZeitung vom 7.7.1996. |
Es sind Bilder, die bleiben. Wie jenes, vor genau 25 Jahren, im Wembley in London. Berti Vogts, der deutsche Bundestrainer, lief alleine in eine Ecke des Stadions, blieb am Spielfeldrand stehen, streckte zuerst die Arme in die Höhe, in der Pose des Siegers, verbeugte sich tief dann vor dem Publikum, wie ein Dirigent nach einem Konzert, dirigierte die Welle des Publikums, das entzückt «Berti!, Berti!» schrie, lief wieder zurück, drehte sich nochmals um, winkte und zupfte die ockerfarbene Krawatte zurecht, die inzwischen etwas schief an seinem Hals hing, als sei es ihm fast etwas peinlich, solche Gefühle zu zeigen.
Deutschland war Europameister. Die Queen applaudierte in der Loge, und später sah Vogts aus «wie ein bisschen ein Teddybär» (Süddeutsche), eng verschlungen hing er vor der breiten Brust des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Vogts im Glück.
Es gibt andere Bilder von ihm. Zwei Jahre zuvor, bei der WM in den USA, Deutschland war ausgeschieden, und Berti Vogts sitzt alleine an einem grossen Gartentisch eines Hotels in New York, alleine mit einem Glas Bier, viele weitere leere Stühle neben ihm, und am gleichen Tag hatte zu Hause «Bild» auf der Frontseite ein Kündigungsschreiben abgedruckt, begleitet von der Aufforderung: «Herr Vogts, unterschreiben Sie hier!»
1994: Einsam im Hotelgarten in New York. |
Oder dieses Bild, zwei Jahre nach dem Triumph im Wembley, diesmal war die WM 1998 in Frankreich vorbei, Deutschland wieder frühzeitig ausgeschieden, und es war im September nach einem Testspiel auf der Insel Malta, bei dem die Deutschen wieder sehr schlecht aussahen: Berti Vogts war nach dem Essen alleine zum Meer gelaufen, hatte sich auf einen Liegestuhl gesetzt, «der einsame Mann im Dunkel der Nacht» schrieben die Zeitungen dazu. Tags darauf trat Vogts zurück, sein Haus in Korschenbroich wurde nachts von vielen TV-Kamerateams umlagert. «Was ist das nur für ein Leben?» fragte er sich und liess im offiziellen Rücktrittsschreiben vermerken: «Ich bin es mir selber schuldig, den letzten Rest Menschenwürde zu verteidigen, welcher mir noch bleibt.» Er werde gejagt wie ein wildes Tier, schrieb scheinheilig die Bild-Zeitung, die bei der Jagd auf ihn in vorderster Front war.
Aber eben, dazwischen, 1996, London, das Wembley, wo die Deutschen jetzt am Dienstagabend 25 Jahre danach wieder spielen, diese Bilder des kleinen Mannes im Glück. Oder von zwei Männern im Glück, innig hatten sie sich damals nach dem Spiel umarmt, und das es soweit kam, hatte auch mit Frau Vogts zu tun gehabt. «Nimm ihn mit zur Europameisterschaft, er wird es dir einmal danken», hatte sie zu ihrem Mann gesagt. Berti gehorchte, berief Oliver Bierhoff, den Stürmer, der so lange verkannt worden war, in sein Kader.
1996: Berti Vogts Europameister in England. |
Bierhoff war in England meist nur Ersatz oder sass gar auf der Tribüne, aber dann, Deutschland lag gegen die Tschechen im Final 0:1 zurück, guckte Vogts auf der Bank, wer noch neben ihm sass, sah Bierhoff und erinnerte sich an die Worte seiner Frau. Drei Minuten stand Bierhoff auf dem Rasen, da gelang ihm mit dem Kopf das 1:1, es kam die Verlängerung, die fünfte Minute, wieder schoss Bierhoff, ein harmloser Ball eigentlich, er habe einfach draufgehauen, sagte er nachher, doch der Ball entglitt dem tschechischen Torhüter aus den Händen, hüpfte über die Linie, es war das Golden Goal, das erste und auch letzte in der Geschichte der EM, und das Spiel damit beendet.
Bierhoff ist jetzt wieder in London, er ist längst Direktor des Deutschen Fussballbundes, Berti Vogts sitzt am Dienstagabend auf der Coach seines Hauses in Korschenbroich, er fluche, leide und juble jeweils bei den deutschen Spielen, sagt er, und er schreibt Kolumnen für die «Saarbrücker Zeitung». Vor kurzem schrieb er über Jogi Löw: «Du brauchst als Bundestrainer eine Sturheit, um erfolgreich zu sein.»
Vogts war stur, ein Mann mit Prinzipien, immer sehr ehrlich, einst als Verteidiger hinten rechts zäh, ausdauernd, kampfstark, unerschrocken.
Golden Goal EM 1996 Oliver Bierhoff
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