Joggen in den Abgasen

Stadtgeschichten (3)



Sie trinken seit Jahren immer ihren Espresso zusammen und manchmal auch zwei, und es gab schon Tage, es waren besondere Tage, sie hatten etwas zu feiern, da bestellten sie, obwohl es erst morgens um acht war, einen Caffè Corretto, und es musste ein besonderer Grappa sein.

 
Aber diesmal rief der eine dem Kellner schon früh zu, er hatte sich noch kaum gesetzt: Für mich nur ein Mineral, ohne, und mit Zitrone. Sein Freund schaute ihn verwundert an.

Ich habe mich dieses Jahr angemeldet, sagte der mit dem Wasser. Einmal im Leben müsse er es gemacht haben, und da er im späteren Herbst seines Lebens stehe, bleibe ihm nicht mehr so viel Zeit dafür.

Für was angemeldet? fragt der, der auch diesmal seinen Espresso trinkt, macchiato bitte. Er lächelt dabei und fügt an: Eine Kur? Mit Säften und so und, mittags und abends mit Gemüsesüpplis, bei denen der Löffel grösser ist als der Inhalt, dazwischen literweise Tee, mehr nicht? Und jetzt grinst er mehr als er lächelt.

Ich will laufen, sagt sein Freund mit ernstem Gesicht und sehr bestimmt, es täte dir auch gut. Und er schaut unter den kleinen Bistrotisch, wo sich etwas wölbt, leicht nur, aber auch durch das weisse Hemd, das er über die Hosen trägt, nicht zu verdecken.

Laufen? Spazieren meinst du, dem Züri-Horn entlang, die Abende werden bald wieder lau, und man sieht viel Schönes dort.

Ich spaziere nicht, ich werde rennen, sehr weit und sehr lange rennen. Oder zumindest regelmässig traben.

Jogging im Wald, ja, ja, das stimmt, das tut gut, sagt er und nimmt den letzten Schluck von seinem Espresso. Das sei auch erholsam, man ist in der Natur, im Grünen, an der frischen Luft. Laufen im Wald sei immer auch etwas Meditatives, man komme auf andere Gedanken, höre Vogelgezwitscher, sehe vielleicht einmal gar ein Reh, und die Hunde müssten ja jetzt an der Leine geführt werden.

Ich renne nicht durch den Wald, ich renne dem See entlang, von Zürich bis Meilen und zurück, einmal seeseits, einmal bergseits, ohne Halt ...

... sein Freund unterbricht ihn jetzt und erzählt, er sei eben mit seinem Auto dem See entlang zu ihrem morgendlichen Treffen gefahren und da habe er gedacht: Wie dumm müssen diese Leute sein? Die würden auf dem harten Boden des Trottoirs rennen, die Abgase einatmen und sich diesem Lärm aussetzen, auch wenn diese Goldküsten-SUV’s nicht mehr nur Benziner seien. Warum, fragt er und schaut seinen Freund an, tun sich diese Leute, Männer und Frauen, das freiwillig an?

Sein Freund greift nochmals zu seinem Wasser, sagt tschüss, bis bald, und nimmt aus seiner Jackentasche eine Maske hervor, eine, wie wir sie bis vor kurzem überall tragen mussten, hellblau-weiss, und sagt: Jetzt brauche ich sie wenigstens und sie machen Sinn, sie helfen mir bei den Vorbereitungsläufen zum Marathon, sie schützen. Und er zeigt ihm auch seinen Arm, und dort, wo er jahrelang seine Rolex trug, ein Geschenk aus glücklichen Tagen seiner Ehe, umklammert jetzt ein riesiges Ding sein Handgelenk. Und stolz sagt er, schau, da kannst du alles ablesen, die gemachten Schritte, selbst die Länge, meinen Puls, die verbrauchten Kalorien, meine Herzfrequenz, auch eine Schlafanalyse bekomme ich.

Er verschwindet. Und hört noch, wie sein zurückgebliebener Freund dem Kellner zuruft: Bitte noch einen, aber mehr Corretto als Espresso.
 


 
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