Der Kiosk in Tavanasa – und der an der Via Veneto

Immer wieder Kioske gesucht und besucht: Zürich-Seefeld, Mai 2020.

Beat Schlatter, der Schauspieler, Kabarettist und Künstler mit ständig tausend Ideen im Kopf, hat ein Buch herausgegeben. «Post Cards» heisst es. Fast tausend Postkarten sind darin abgebildet, die eine Geschichte erzählen und Gefühle aufkommen lassen, an eine frühere Zeit. Schlatter hat schon als Kind und bis heute Postkarten gesammelt. In diesem schönen Buch sind es solche aus den 1960er- bis in die 1980er-Jahre, von Stränden, Kirchen und Kathedralen, Brunnen, einsamen Orten, Hotels und Pools und Passstrassen, Landschaften im Winter und Sommer, am Tag, in der Nacht, mit oder ohne Menschen drauf. «Saluti da Capri» steht auf einem, eine Blondine in Pose lächelt mit einem Apfel in der Hand, «Souvenir di Roma» einem anderen, mit dem Foto von Papst Johannes Paul II.

Ich denke, ich hätte auch Bilder sammeln müssen, es wären einige Hundert geworden. Bilder von Kiosken, aus der ganzen Welt, Kioske, die ich gesucht und besucht habe, manchmal verzweifelt und lange und weite Wege gegangen bin, um einen zu finden, weil mir jemand gesagt hat, dort hätte es einen, und dann waren sie manchmal geschlossen, oder es war einmal ein Kiosk und ist es heute nicht mehr.

Ich suchte diese aus einem Grund: Ich wollte Zeitungen kaufen, wollte lesen, das Neueste wissen, in einer Zeit, als man das Neueste fast nur in den Zeitungen erfahren konnte.

Überall auf der Welt suchte ich Kioske auf oder auch Läden, in denen ich vermutete, dass es vielleicht Zeitungen gibt.

Als Kind, in den sechziger Jahren, bin ich am Sonntagabend jeweils zum Bahnhof in Küsnacht gelaufen, ich wartete auf den Zug, der aus Zürich kam, kurz nach sechs, im Güterwagen wurden die neuesten Zeitungen geliefert, die «NZZ», noch keine «NZZ am Sonntag», sie kam eben einfach bereits am Sonntagabend und unter der Woche noch dreimal am Tag. Und die «Tat», die es damals gab. Ich lief mit dem Mann vom Kiosk mit zum Perron, und dann machte er einen Bündel auf, ich zahlte und begann noch auf dem Heimweg zu lesen, Blum, glaube ich, hiess ein «Tat»-Journalist, er konnte so wunderbare blumige Matchberichte schreiben.

Und auch später, im Zürcher Seefeld, bei der Tramhaltestelle Fröhlichstrasse, in der ganzen Welt, nicht nur in Europa, suchte ich (und suche heute noch) überall Kioske auf oder auch Läden, in denen ich vermutete, dass es vielleicht Zeitungen gibt, auch Zeitungen in einer Sprache, die ich wenig oder kaum verstand. Anderes, mit Ausnahme einer kurzen Phase, in der ich Gauloises bleu rauchte, mit Filter, suchte ich an diesen Orten nur eines: sie, Zeitungen, Zeitungen, Zeitungen oder Magazine. Und ja, es war einmal, da fand man an einigen Orten an irgendeinem Ständer sogar den «Tages-Anzeige», inmitten der grossen Blätter der Welt oder des jeweiligen Landes. Ich prägte mir jeweils ein, wo diese Kioske waren: Am Münchner Hauptbahnhof, nur an einem, direkt bei den Geleisen in der Haupthalle, in Mailand in der Stazione Centrale, in Venedig, ich glaube in der Nähe des Markusplatzes, und dann auch in Rom, an der Via Veneto, zwischen dem Café de Paris und Harry’s Bar.

Wie viele Schritte bin ich gelaufen, bin ich Tram gefahren, im eigenen Auto oder im Taxi, um sie zu finden - und eben stolz zu sein? Der Tagi in der grossen Welt. Und vielleicht gar ein Text drin, den ich geschrieben hatte.


Das neue Buch von Arno Camenisch: «Goldene Jahre».

Kioske auf der ganzen Welt. Und ich erinnerte mich an sie, als ich das neue Buch von Arno Camenisch las: «Goldene Jahre». Ein wunderbares Buch. Der Kiosk der «Goldenen Jahre» steht in Tavanasa, in der Surselva, wo Camenisch herkommt, Margrit und Rosa Maria führen ihn, mit einer Leuchtreklame drauf, auf die sie stolz sind, einer Zapfsäule, an der man tanken kann, der Tagespreis ist jeweils mit Kreide angeschrieben, seit 50 Jahren schon, oder vielleicht doch 51, am Tag der Mondlandung wurde der Kiosk eröffnet. Die beiden Frauen erzählen vom Leben, wie es war, schöne,traurige und auch lustige Geschichten, von der Liebe, bei Camenisch heisst es immer Amore, und wer alles schon vorbei kam an ihrem Kiosk, ein Bundesrat, die Ornella (es muss die Muti sein), der gestürzte Eddy Merckx an der Tour de Suisse, und der Dorfpfarrer, dem sie jeden Freitag sein Heftli, und man weiss, welches Heftli gemeint ist, in den «Blick» wickelten, «es wäre ein Scandal für den Boulevard».

Ein Satz aus dem Buch, Seite 44: «Ja, sagt die Rosa Maria, da haben sich noch einige die Finger verbrannt mit der Amore, die ist nämlich gefährlich wia susch nüt, sagt sie und lächelt, ja, ja, sie hält die Schere hoch, die Spitze blitzt auf, wir wollen gar nicht wissen, wie viele Kriege geführt wurden wegen der Liebe, da sind bereits viele Armeen über die Felder gezogen wegen blutender Herzen.»



Das neue Buch von Beat Schlatter: «Post Cards».

Liest man das Buch – und wenn man jemals an einer Lesung von Camenisch dabei war –, dann hört man ihn reden, seine besondere Sprache, seinen Klang, sein Gemisch aus Hochdeutsch und manchmal Dialekt und auch einigen rätoromanischen Wörtern, «sodeli» kommt vor, oder «söttigs» oder immer wieder: «sep scho nid». 

Seine Stimme im Ohr, und man riecht auch, wie es ist, an diesem Kiosk, das Leben dieser beiden Erzählerinnen, die in ihrer kleinen Welt leben und immer wieder Gedanken zu den grossen Dingen in der Welt machen; es ist ein typischer Camenisch, sein elftes Buch, diesmal in leuchtendem grasgrün, Camenisch sagt, es habe einen hellen, lebensbejahenden Grundton. Es sei ein Buch des Aufbruchs, des Frühlings.

Von Heftli ist darin manchmal die Rede, von der Zapfsäule, der Leuchtreklame, von Sugus, Sinalco und Sanagol, Zeitungen muss es auch gehabt haben, aber davon schreibt Camenisch kaum - beim Kiosk an der Via Veneto in Rom und überall anderswo war für mich nur eines wichtig: eben diese Zeitungen.

Arno Camenisch: «Goldene Jahre.» Engeler-Verlag.
Beat Schlatter: «Post Cards.» Christoph Merian Verlag.

Schauspieler Beat Schlatter, Schriftsteller Arno Camenisch.



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