Der dunkle Schatten
Das ist ein Satz, ein einziger, Sie müssen viel Geduld haben, bis einmal ein Punkt kommt, der einzige, und ich schreibe diesen unendlich langen Satz, weil ich auf ein Buch hinweisen will, das mich gefesselt hat, es ist ein Buch, das nur 103 Seiten hat, die Bücher dieses Autoren haben immer ungefähr so viele Seiten und auch lange Sätze, die Buchdeckel haben eine Farbe, immer eine andere und sind schlicht gehalten, die Farbe ist diesmal dunkelgrau, und das passt zum Buch, es ist die Farbe zum Thema, über das der Autor schreibt, es ist ein nachdenkliches und eindrückliches Buch, das man in einer Nacht lesen kann und wohl auch lesen wird, weil es einen packt und berührt und nahe geht, und man sich immer auch viele eigene Gedanken macht, es ist, sagt der Autor selber, sein bisher persönlichstes Buch, sehr intim und ganz anders als seine anderen, die auch tiefsinnig, aber immer auch witzig sind, man erfährt in diesem neuen Buch, seinem zwölften, viel über sein eigenes Leben und über das kleine Dorf, in dem er aufgewachsen ist, in der Surselva in Graubünden, Tavanasa heisst das Dorf, und die Menschen in diesem Dorf müssen mit einer schrecklichen Geschichte leben, ein Unglück mit drei Kindern, das passiert ist, bevor der Autor auf der Welt war und das das Dorf sprachlos macht, bis heute, und in diesem Buch nun versucht der Erzähler, der der Autor ist, zu verstehen, was man nie verstehen kann und auf seine Weise zu verarbeiten, und die Menschen, die in Tavanasa heute noch leben, und es sind immer weniger, sind froh, dass jemand, einer von ihnen, diese schreckliche Tragödie zu erzählen versucht, es ist eine Geschichte über den Umgang mit Verlust und das Vergehen der Zeit, wie der Autor sagt, er heisst Arno Camenisch, sein Buch «Der Schatten über dem Dorf».
Der Bahnhof von Tavanasa in der Surselva. |
Dieser Satz hat 304 Wörter, genau so viele wie ein einziger Satz von Arno Camenisch hat, der auf den Seiten 72 und 73 im Buch steht, es geht dabei um die Gefühle, die man hat, wenn man das eigene Kind verliert.
Er beginnt so:
«Wie soll man so etwas verstehen, dachte er sich, schaute zum Dorfboden hoch und zum Wald, und wie soll man so etwas überstehen, wenn dein eigenes Kind stirbt, dass man sein Kind nie würde wachsen sehen..."
Es folgen in diesem Satz 269 weitere Wörter. Es ist ein wunderbarer Satz. Der Satz des Buches.
Arno Camenisch: Der Schatten über dem Dorf. Engeler-Verlag, Schupfart 2021. 103 Seiten, Fr. 27.90.
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