Weite Reisen

 

Ich hatte das Buch an diesem Tag gekauft und gleich mit dem Lesen begonnen. Ich sass am See auf einem Stein, es war ein Tag mit viel Wind und recht hohen Wellen, und auf der ersten Seite des Buches ist genau eine solche Stimmung beschrieben, mit einem kräftigen Wind, der Ich-Erzähler schliesst die Augen und der See hätte sich wie das Meer angehört.

«Die Welt» heisst das Buch, das neue von Arno Camenisch, 44, den ich ein wenig kenne, und ich liebte die bisherigen zwölf Bücher des Bündner Autors, seine Sprache, seine Melancholie, seine Gedanken und Geschichten mit Menschen aus der Surselva und dem Dorf Tavanasa, wo er herkommt, jedes dünne Buch mit einem schlichten Umschlag und immer in einer anderen Farbe. Und jetzt ein neues, ein ganz anderes, neu im Diogenes-Verlag, und ich las die ersten Kritiken in Zeitungen, und sie waren ziemlich böse, der grosse Sprachkünstler trete als Schwafler auf, schrieb Martin Ebel im «Tages-Anzeiger». Es tat etwas weh, das zu lesen,und ich fragte mich, was dies mit Camenisch macht.

Ich blieb nicht lange am See, ich ging bald zu meiner Mutter, die in Küsnacht im Altersheim lag, es ging ihr immer schlechter in den letzten Tagen, und wir ahnten, dass sie wohl auf dem letzten Weg ihres langen Lebens angekommen war. Meine Schwestern und ich wollten sie dabei begleiten; ich blieb diese ganze Nacht bei ihr.

Und so sass ich auf einem Sessel neben ihrem Bett, das Buch in der Hand, das Buch, das nicht mehr Geschichten aus der kleinen Welt der Surselva erzählt, sondern vom Ausbrechen in die grosse Welt, nach Hongkong, Australien, Südamerika, Spanien, es ist die Geschichte des jungen Arno Camenisch, etwas über zwanzig ist er, wie er um die Welt reist, unbeschwert und ziellos, was er erlebt und wieder vergisst, wie er sich frei fühlt und das ausgiebig geniesst.

Ich las und sah immer wieder zu meiner Mutter, die in ihrem Bett lag. Sie hat uns, meine Schwestern und mich, kaum mehr erkannt, aber vielleicht hat sie gefühlt, dass wir in ihrer Nähe sind, und es hatte in ihrem Zimmer ganz viele Bücher, Ordner und Fotos, die von ihrem Leben erzählen.


Unsere Mutter war mit 19 ein Jahr in England bei einer Familie gewesen, sie wollte die Sprache lernen, und Camenisch schreibt in seinem Buch auch, wie er auf seinen Reisen die Sprache lernte, Spanisch, und unser Mami, Mamma sagte ich ihr, als ich kein Kind mehr war, redete bis heute von diesem Jahr. Es hat sie geprägt, auch wenn es für sie damals nicht einfach war, sie war getrennt von ihrem Karli, ihrem späteren Mann, unserem Vater, den sie kurz zuvor kennen- und liebengelernt hatte. Und auch das fanden wir in einem der vielen Ordner, ihren ersten Liebesbrief, in dem sie ihm für all die Liebe und das Gute, das sie während dem ersten Jahr empfangen durfte, gedankt hatte. «Mein grösster Wunsch ist, mit Dir allein das ganze Leben zu meistern und immer mit Dir sein zu dürfen», stand darin als letzter Satz, in diesem Brief vom 4. März 1946.

Ihr Karli, unser Papa, starb vor etwas mehr als zwei Jahren, sie hätten in diesem 2020 ihren 70. Hochzeitstag feiern dürfen, Gnadenhochzeit nennt man das im Christentum.

An all das dachte ich, als ich Camenischs neues Buch las, in dem viele Begegnungen, längere und auch sehr flüchtige, beschrieben sind, über die Bedeutung von Zufällen und wie das Leben verlaufen wäre, wenn man ihm einmal eine andere Richtung gegeben hätte. Unsere Mutter hatte zwei Bücher von Camenisch, wir wissen nicht, ob sie diese auch gelesen hat, aber wir haben ihr manchmal von seinen Lesungen erzählt. Und was hätte sie zum neuen Buch gesagt, in dem eben von vielen wechselnden Beziehungen die Rede ist und auch, etwas gar viel, von Sex?

Das kleine Tagebuch von ihrer letzten Reise nach Mallorca, 86-jährig war sie

Und, und das ging mir durch den Kopf, in dieser Nacht neben ihrem Bett, meine Mamma lag mit geschlossenen Augen da und atmete sehr tief: Wäre sie auch gerne noch mehr gereist, hätte sie gerne noch mehr von dieser grossen Welt gesehen? Es gibt immer viele Fragen, die man hätte stellen wollen und nicht mehr stellen kann.

Wir machten als Kind Ferien im Tessin (im Sommer) und in Wildhaus (im Winter), später reisten meine Eltern zweimal nach Griechenland, nach Italien und Spanien, und ihre letzte Reise, sie war damals schon 86, war nach Mallorca. Unser Vater wollte nicht mehr mitkommen, aber sie genoss es, Familienferien auf einer Finca, und sie schrieb, wir fanden es jetzt in einem der vielen Ordner, ein kleines Tagebuch darüber. Über den Dienstag, 16.9.2014: «Es war so schön, ausgiebig z’Morge mit Joghurt, Käse, Nusshonig (den liebte sie, wir mussten ihr später immer solchen mitbringen), Früchten. Und dann Programm am Strand, wir fahren mit dem Auto nach Platja Es Trenc, Nähe Colonia Sant Jordi, mit Luftmatratze und Poolnudeln. Ich beobachtete das Strandleben auf dem Liegebett, und später ging ich mit Hilfe meiner Kinder auch nochmals ins Meer. So schön, solches nochmals erleben zu dürfen.»

Blick vom Geissenpark im Bethesda zu Mammas Zimmer.

Camenisch schreibt in seinem Buch auch immer wieder über seine Mutter, wie er sie, die nach einem Zusammenbruch in einer psychiatrischen Klinik weilt, zwischen seinen Reisen immer wieder besucht und mit ihr in einem offenen Spider-Cabriolet über Pässe und auch Autobahnen fährt und das geniesst. «Ich weiss nicht, wo die Mutter war, wenn sie im Spider sass und wir über die Autobahn fuhren und der Wind ihr die Haare nach hinten zog, sie hatte ein Lächeln im Gesicht, und ich wusste nicht, wie viel sie von dieser Fahrt mitbekam und wo sie genau war, vielleicht dachte sie ans Meer, die Mutter erzählte hin und wieder, dass sie am Meer gewesen sei als junge Frau», schreibt Camenisch an einer Stelle.

An was dachte meine Mutter? dachte ich auch, und schon in den Wochen zuvor, als sie oft abwesend war und sie auf Fragen wenig oder keine Antworten gab, auch weil sie diese nicht verstand. Und manchmal dachte ich: Kleine Kinder leben in ihrer kleinen Welt, und alte Menschen leben auch wieder in ihrer kleinen Welt, sie bekommen nichts mit von den schrecklichen und angstvollen Zeiten in dieser grossen Welt. Meine Mamma fragte noch einige Tage zuvor: «Was isch das eigentli, Corona?» Sie war zum zweiten Mal daran erkrankt.

Leben, unbeschwertes Leben, sich verlieben, sich auch lieben ohne zu lieben, weiterziehen auf einer Reise, planlos, mal dort, mal da – darüber lesen und gleichzeitig seine Mamma sehen, wie sie nur noch im Bett liegt und schläft. Das neue Buch passte in diesem Moment. Ich hörte das wunderbare Lied von Büne Huber an seine Mutter: «Für immer uf di». Er muss, wenn er es auf der Bühne singt, immer ein Glas Rotwein in der Hand haben, sonst kämen die Tränen, sagt er.

Das Buch, das Lied, meine Mamma im Bett – in dieser Nacht.

Arno Camenisch sagt: «Ich wollte das Buch so schreiben, und es stimmt für mich.»

In einem Ordner fanden wir auch den Wunsch, den unsere Mutter hatte, das Lied, das einmal in der Kirche gespielt werden soll: «Non, je ne regrette rien.»

Mamma schlief an diesem Dienstagmittag friedlich ein, mit 94 Jahren.


***

Arno Camenisch. Die Welt. Roman, Diogenes, 136 Seiten, ca 30 Franken

Kommentare

  1. Anonym30.7.22

    🙏🏼🥰 … zutiefst berührt & in Tränen aufgelöst 😌 Danke für diesen unter die Haut gehenden Text ❤️

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  2. schöner Text. Herzliches Beileid

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  3. Anonym2.8.22

    Welch berührende und liebevolle Worte ihrer Geschichte🥰und diese tolle Vernetzung vom Text von Arno einem tollen Schriftsteller

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  4. Anonym4.8.22

    Sehr schön

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  5. Peter4.8.22

    Unser herzliches Beileid zum liebevollen Abschied deiner Mutter. Arno Camenisch hätte deine Geschichte kaum besser schreiben können. Bettina u Peter

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  6. Esther5.8.22

    Om mani padme hum 🙏🏼💖🌏

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