Mit Gazza im Pub

Fredys EM-Blog – Nr. 2

In elf Städten in elf Ländern, es ist eine sonderbare Fussball-Europameisterschaft in eigenartigen Zeiten. In diesem EM-Blog möchte ich über beides schreiben, Gedanken zum Turnier, das in diesem Sommer stattfindet, aber immer noch Euro 2020 heisst, manchmal nur mit Bildern – aber auch mit Texten von früher zeigen, wie es einmal war, als eine EM nur in einem Land (oder höchstens zwei Ländern) ausgetragen wurde. Einige Erlebnisse von damals.

Mit Gazza im Pub

Paul Gascoigne, 57 Länderspiele für England, 10 Tore.


Eine Kolumne während der Euro 1996. England spielte gegen Schottland, Paul Gascoigne, das schlampige Genie, schoss ein wunderbares Tor. Und an diesem Freitag treffen die beiden Teams wieder aufeinander, wieder in London im Wembley, es ist ihr 115. Länderspiel, 149 Jahre nachdem sie das erste Länderspiel der Fussballgeschichte überhaupt ausgetragen haben (damals in Glasgow). Und eben die Erinnerung an Paul Gascoigne, der in seiner Biografie schreiben liess: «Auf einen dreifachen Baileys machte ich Schaum. So dachten alle, ich trinke Cappuccino.» Er ist bis heute dem Alkohol verfallen, sein Leben deswegen immer wieder in Gefahr.  

Auf dem Tresen stehen schon Dutzende leere Biergläser. Die Frontseite des «Daily Star» liegt im «Yenton», einem Pub in einem Aussenquartier von Birmingham, zerknittert auf einem Tisch. «Wir wollen viel lieber die Deutschen niedermachen oder die Franzosen erniedrigen, aber heute ist Schottland unser grosser Feind», ist im Kommentar auf der ersten Seite zu lesen, und im «Daily Mail» steht gar vom Krieg geschrieben, den es im Wembley geben wird. Aus der Musikbox scheppert ein Lied von Rod Stewart, in einer Ecke spielen zwei Frauen am Billardtisch, Kinder stehen vor dem Kasten, sind aber zu klein, um damit zu flippern.

Die Männer haben nur eines im Auge. Paul Gascoigne singt am Fernsehen mit gebleichten Haaren die Nationalhymne mit, «He is a genius, but he is always drunk», sagt einer, der nachmittags um drei auch nicht sein erstes Bier in der Hand hält, und im Pub singen sie mit Gascoigne und all den anderen ebenfalls; nur einer in der Ecke ist unbeteiligt, hat den Kopf gesenkt, einen Stock neben sich und schläft. «Er ist schon viele Stunden hier», sagt der hinter der Bar.

Pub «The Yenton» in Birmingham.

Rod Stewart scheppert nicht mehr, irgendeiner hat einfach den Stecker herausgezogen, Gascoigne stürmt, «Yes, yes, do it!», schreien sie im Pub, doch er kommt nicht mehr an den Ball, zu fett sei er eben, sagt einer, er trinke halt zuviel, wiederholt jener, für den er trotzdem ein Genie bleibt. Nächstes Bier, please.

Gascoigne dribbelt, das nächste Bier steht bereit und ist bald auch ausgetrunken. Ruhiger ist es inzwischen aber geworden, von einem schlechten Spiel spricht der BBC-Reporter, immer noch 0:0 steht es, und bei Halbzeit gehen einige nach draussen, sitzen hemdlos und bleich auf Stühlen in der prallen Sonne. Vielleicht tun dies in diesem Moment auch zwei portugiesische Fans, die laut «Independent» in Sheffield verzweifelt ins Tourismusbüro gekommen sind und gefragt haben: «Wo ist denn hier die Beach?» Die Kohlenstadt Sheffield liegt mitten auf der Insel.

Gascoigne rennt wieder, die Engländer werden besser, eine Flanke von rechts, «Yes, yes, yeeeeees!», ein Aufschrei, «Shearer, yeeeeees!», alle johlen, singen, schreien, tanzen, «We are the champions», natürlich, Bier fällt zu Boden, neues wird verlangt, nur der Blick des Schweizers, der mitten drin im Pub steht, ist wohl anders, denn er wird gefragt: «Fühlst du dich schlecht?». Er trinkt kein Bier, hat es noch nie getan.

Doch dann, der Pfiff des Schiedsrichters, ein «Fucking, fucking gay», sei er, und: «Adams has the ball», als die Wiederholung kommt, nie und nimmer sei das ein Elfmeter. Der Schweizer, der sich als Schotte fühlt, hofft: 1:1, unentschieden, das wäre gut für die Schweiz. «No!, no!», tönt es jetzt aus allen Ecken im «Yenton», der Anlauf, der Schuss von McAllister – und der englische Torhüter Seaman zeigt einen starken Reflex, wehrt den Ball irgendwie ab.

«Wonderful» ertönt es, auch die Frauen am Billardtisch jubeln mit, bleiben vor dem Fernseher stehen, fiebern nun ebenfalls, und dann – die Explosion im Pub. Gascoignes grandioser Auftritt, linker Fuss, rechter Fuss, eine Nummer für den Zirkus, ein grossartiges Tor. «I love Gazza» schreit jetzt der, für den er eine Stunde zuvor vor allem der Trinkende war, «Gazza, the great», einmalig sei er, «The magic man», alle lieben ihn, und auch der Schweizer, der, so erinnert er sich vage, ganz kurz vor Bewunderung aufgeschrien hat, wird innigst umarmt, bekommt Bier aufgetischt, das er nicht mag. Gascoigne liegt im Wembley flach und ausgestreckt auf dem Rasen. Vor Glück.
 
Gascoignes Tor gegen Schottland am 15.6.1996 (Youtube)

50 singen im Pub, als wären es 500. «Wenn wir heute verlieren, dann sind wir bei unserem Fest nur noch unbeteiligte Zuschauer», stand an diesem Tag in der Zeitung geschrieben. Und als nächster Satz: «Das ist undenkbar.»

Gascoigne. Gascoigne. Gascoigne. Im Pub schwärmen sie nur noch von einem. Zu fett? Ein Trinker? Zu faul? Ein Kindskopf? «Er ist einer von uns», sagt der nebenan. Und hebt das Glas. Es ist sehr, sehr laut im Pub in Birmingham. 
 
Das war am 15. Juni 1996, vor genau 25 Jahren.

 

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