Hageljubelnacht


Fredys EM-Blog – Nr. 10


In elf Städten in elf Ländern, es ist eine sonderbare Fussball-Europameisterschaft in diesen Zeiten. In diesem EM-Blog möchte ich über beides schreiben, Gedanken zum Turnier, das in diesem Sommer stattfindet, aber immer noch Euro 2020 heisst, manchmal nur mit Bildern – aber auch mit Texten von früher zeigen, wie es einmal war, als eine EM nur in einem Land (oder höchstens zwei Ländern) ausgetragen wurde. 

Als die Gläser tanzten

28.6.2021, 23.45 Uhr, Der Jubel an der Lindenstrasse.

War da überhaupt eine EM? Überall und nirgends, irgendwo in Europa verteilt. Einige Stadien fast leer, an einem Ort überfüllt, und ist da nicht immer noch Corona? Und warum spielen sie überhaupt diese Euro 2020, die eigentlich Euro 2021 heissen sollte? Und diese Svizzeri in Roma, die sollen doch lieber nach Hause, blamabel war es, lafern statt liefern, so sei es, steht geschrieben, und ja, dieser Petkovic, sieben Jahre sind genug, sucht einen Neuen, sagten sie, an den Stammtischen, wo sie sonst aber über anderes sprachen, wenig über Fussball, denn ist überhaupt EM, und wo spielen sie denn heute wieder? Gut, gegen die Türken, aber die waren ja die Schwächsten des Turniers, wenigstens im Achtelfinal, wie immer, und dann ist Ende.

Dachten wir. Sagten wir. Lasen wir.

Und dann dieser Dienstagabend. Erst der Hagel vom Himmel. Sintflut.

Erst der Hagel.

Und dann der Hagel mit Gefühlen. Staunen (1:0). Noch innerlich umdenken (die spielen ja wirklich gut). Verzweifeln (der verschossene Elfmeter, das verpasste 2:0). Aufgeben (1:1, 1:2, es ist wie immer). Jetzt sowieso (1:3). Ausgeschieden, wie immer im Achtelfinal. Immerhin gegen die Franzosen, den Weltmeister.

Seferovic und der Jubel nach dem 1:0.

Der Regen setzt wieder ein, draussen an der Lindenstrasse im Zürcher Seefeld, vor dem Totò und dem Iroquois nebenan, und draussen hängen wieder die Bildschirme, wenigstens der Hagel hat aufgehört, und die meisten, Männer, auch viele Frauen, stehen, das Glas in der Hand, einige in rot, und einige etwas lauter, und der Hagel an Gefühlen setzt erst ein.

Bangen im Stadion in Bukarest vor dem Bildschirm an der Lindenstrasse.

Ja! (noch 2:3). Vielleicht, vielleicht. Ja! Ja! Ja! (3:3). Das Glas tanzt, Fremde, die sich fremd waren, sind es nicht mehr, der Ruefer schreit am Bildschirm irgendetwas, doch an der Lindenstrasse schreit ein Chor.

Der Jubel im Totò nach dem 3:3.

Das Psychospiel aus Elfmetern. Drin, drin, drin, drin, neunmal hintereinander, alle treffen, einmal schreien an der Lindenstrasse alle auf, das nächste Mal ist es still, nur von irgendwo tönt «Allez les Bleus», ein einsamer Rufer, oder war es eine einsame Ruferin? Sicher nicht der Ruefer am Bildschirm. Den hört man nicht mehr.

Dann: Yaaaaaaaaaaaaan! Sooommmmmmmmmmmer! Sein Vater, Daniel, sitzt in Bukarest im Stadion, er war auch Torhüter, einst, beim FC Küsnacht, und Yanns Bewegungen im Tor sind ähnlich wie jene damals von seinem Vater, auch wenn Yann seinen Vater kaum mehr spielen sah. Und der Vater diesen Elfmeter wohl nicht gehalten hätte. Mit dem Daumen der linken Hand. Wie Yann.


Yann Sommer beim Elfmeter und einst im Dress des FC Küsnacht.

Die Gläser tanzen. Und jene, die sie in der Hand halten, umarmen sich, und ganz viele sind jetzt auf der Strasse, niemand mehr drinnen, Roller fahren vorbei, rote, und Fahnen werden geschwungen, rote, die Trams, der 4er und der 2er, der rote, scheinen auch feiernd durch die Seefeldstrasse zu gleiten, Mitternacht ist vorbei, im Netz flitzen Bilder vom Eiffelturm in Paris, der in rot erstrahlt ist und Menschenmassen von Feiernden auf der Langstrasse in Zürich, Corona ist nur noch ein Bier.

Rollend in Rot durchs Seefeld.

Auf dem Bildschirm an der Lindenstrasse zeigen sie Petkovic und Xhaka in inniger Umarmung, wie ein Liebespaar. Sie sind die Grössten. In dieser Hageljubelnacht. Und es war Sommer. 

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