Das war's
Blog-Nr. 445
Ein Bild und ein Text
– zu jedem Monat im 2025
Nie mehr wird einer beim HCD die Nummer 10 tragen. Er fehlt.
17. März. Ich war wieder im Engadin, wieder ein Tag mit Sonne und Licht und viel Schnee, mein erster Tag auf Skiern in diesem Winter, ich wollte eben in Sils im Engadin in die Furtschellas-Seilbahn einsteigen, da ploppte auf meinem Handy die Nachricht auf: «Peter Bichsel gestorben». Bichsel blieb den ganzen Tag im Kopf, ich wusste, ich will etwas über ihn schreiben, er hat mein Leben so sehr und immer wieder begleitet, mit seinen Büchern, seinen Kolumnen, seinen wunderbaren Texten und Gedanken. Es war ein so schöner sonniger Tag, aber ich ging frühzeitig zurück ins Hotel. Ich las auch diesen Satz nochmals, den er drei Jahre zuvor in einem Interview mit der «NZZ» gesagt hatte, ein wunderbarer Gedanke: «Ich kann mich, auch ohne zu leiden, langweilen. Ich kann hier sitzen und nichts tun und merke nicht einmal, dass ich denke. Ich mag die Langeweile, sie wird mir auch immer wichtiger. Die Leute wollen lange leben, aber sie wollen es dann immer kurzweilig haben. Wenn man die Zeit kurz macht, wenn es kurzweilig ist, dann wird das Leben kurz. Dann ist nach jedem Augenblick Weihnachten.» Der Titel zum Interview hiess damals: «Ich gehe völlig unvorbereitet in das Abenteuer Tod».
Hier nochmals mein Nachruf damals
13. April (oder irgendwann, im April oder auch ein anderer Monat). Eigentlich müsste es ein Bild aus dem «Totò» im Seefeld sein. Es ist mein Lokal, meine Heimat, mein Ort, um den ersten Espresso des Tages und oft auch den zweiten und manchmal auch den dritten und vielleicht später, jetzt nicht mehr am Morgen, den vierten zu trinken. Aber das «Totò» wird (leider) 2026 ein (vorläufig) letztes Thema sein, am 28. Februar, wenn es schliesst, für länger schliessen muss, weil das ganze Haus renoviert wird. Der Tag dürfte traurig werden. Als Bild zu diesem Jahr also das «Odeon» beim Bellevue. Welche Geschichten mit diesem Lokal verbunden sind, welche Vergangenheit, wie viele Momente im Leben, in sehr jungen Jahren und jetzt in gar nicht mehr so jungen, und manchmal auch Abende wie diese, wenn Hans-Jürgen, der Geschäftsführer, der Österreicher mit dem grossen Charme und der immer-Flirtende, in der Bar auf den Tresen steigt, es ist dunkel draussen, meistens beginnt es mit lauter italienischer Musik, Celentano, Dalla, Nannini, Zucchero, Jovanotti. alle, und er tanzt, bewegt zumindest seine Beine und Hüfte, manchmal auch in tanzender Begleitung. Und wir, wir unten an den Tischen sitzend oder auch stehend, beginnen ebenfalls zu tanzen oder uns zu bewegen, mit der Hüfte zumindest, oder einfach im Kopf, der zweite Negroni, später der dritte, macht es leichter.
8. Mai. Irgendwo gesehen in der grossen Netzwelt, auf Facebook wohl, nicht zufällig an diesem Tag. Der 8. Mai 1945, es ist der Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Befreiung vom Nationalsozialismus. Das historische Bild, es muss am Zürcher Hauptbahnhof sein, ein Zeitungsverkäufer mit der Extraausgabe des Tages-Anzeigers, und auch die neuen Sommerfahrpläne kündigt er auf seinem Rücken an. Welch ein Bild! Mit ganz verschiedenen Gedanken dazu. Kriegsende! Das Ende vom Horror und den Gräueltaten und dem Elend, die Befreiung, die Hoffnung auf eine friedliche Welt. Und jetzt, 80 Jahre später, am 8. Mai 2025, ist Europa wieder im Krieg, gibt es wieder diese schrecklichen Bilder, das schlimme Elend und die grosse Angst. Und ja, auch dieser Gedanke kommt beim Betrachten des Bildes. Ein Zeitungsverkäufer! Noch lange gab es sie, auch am Hauptbahnhof, spät abends, wenn man aus dem Zug stieg, standen sie da, Tagi und NZZ, die Zeitung von morgen noch heute. Und die bange Frage: Verkäufer (auch -innen?), die sie ausrufen, gibt es längst nicht mehr – wie lange gibt es noch die gedruckten Zeitungen?
7. Juni. Hier, auf diesem Bild: Dylan. Es könnte auch Lionel sein. Oder Diego. Meine drei Enkel, 11, 14 und 16-jährig. Oder manchmal auch mein Neffe, Kai (21). Das Datum zufällig gewählt, es könnte auch ein ganz anderes sein in diesem Jahr, meistens sind es Samstage. In Küsnacht, oben auf dem Fallacher in Itschnach natürlich, oder in Fällanden auf der Sportanlage Neue Glattwis. Oder in Dübendorf, Stäfa, Männedorf, Zollikon, Herrliberg, Meilen, Schwarzenbach, Winterthur, Gossau, Wettswil-Bonstetten, irgendeinem Quartierplatz in Zürich, Bülach, Urdorf, Witikon, Glattbrugg, Maur, Greifensee. Ich habe sicher noch einige Orte vergessen. Manchmal sah mein Samstag so aus: 11 Uhr: Diego, 14 Uhr: Dylan, 16 Uhr Lionel. Sonntags vielleicht Kai. Immer wieder anderswo. Der eine im Tor, der andere im Mittelfeld, der dritte im Sturm, links oder rechts. Sie waren nervös, und ich war es, sie spielten, und ich dachte, ich möchte am liebsten auch nochmals spielen (können), sie jubelten, und ich jubelte mit ihnen, sie waren traurig und ich mit ihnen. Und ich denke, solche Samstage sind meistens schöner als es früher Momente im Bernabeu, San Siro, Camp Nou, Wembley, Letzigrund, Hardturm oder irgendwo waren.
16. Juli. Es war sonnig, es war warm, der Himmel war nur blau, es war ein Sommertag – und abends kamen Wolken, wie oft in diesem Juli, der oft nicht schön war, erst nur wenige, aber hinter dem Uetliberg wurde es immer dunkler, fast schwarz, es begann zu winden, auch erst harmlos, dann immer stärker, die gelben Lichter der Sturmwarnung bei Wollishofen blinkten auf, die Wellen überschlugen sich, und dann, innert Minuten, wurde aus dem schönen Sommertag ein Unwetter, zumindest ein heftiges Gewitter. Ach, wie liebe ich diese Stimmungen am See, dieses Bild, wie sich das Wasser verfärbt, von blau zu grün oder grau. Sie erinnern mich an Zeiten als Kind, im (grossen) Strandbad in Küsnacht, wie wir jeweils aus dem Wasser rannten, weil der Bademeister uns mit den Armen heftig Zeichen gab, oder wie wir hinten auf der Wiese Fussball spielten und erst in die Garderoben flüchteten, als es zu blitzen und donnern begann. Das Kusen im Goldbach, die Badi der Erwachsenen, kannten wir als Kinder nicht, aber jetzt ist es meine Badi, mein Ort für vieles, immer wieder grossartige Sonnenuntergänge, heisse Nachmittage auf dem Floos, lange Abende an einem Tisch bei Enzo, mein sommerliches Homeoffice oft – und eben: Wie ich diese Momente liebe, das Wasser spritzt über die Steine am Ufer, die grauen, zwischendurch pechschwarzen Wolken rasen über unsere Köpfe, man sieht das andere Ufer nicht mehr, der Zürichsee wird zum tobenden Meer.
15. August. Diesmal in Bern, in der neuen Expo-Halle, wir waren früh und standen ganz vorne an der Bühne, und Büne nahm sein Glas Rotwein. Er sagte einmal, ohne das könne er dieses Lied gar nicht mehr spielen, es kämen sonst die Tränen, und er sang die Zeile in seinem Lied «Für immer uf di», einem seiner persönlichsten Songs, in dem es um das Leben und Sterben geht, Melancholie und Hoffnung, das Gestern und Morgen, von der Liebe. Es heisst darin: »Blibsch i mim Härz sogar no denn wes afaht weh tue. (...) Es Glas uf d'Liebi und eis uf z'voue Läbe u Eis uf au das wo mir nid chöi häbe.» Es ist ein Lied für seine verstorbene Mutter und für seine Enkelin, und immer wenn Büne Huber mit Patent Ochsner das spielt, muss ich an jenen Tag im Sommer 2022 denken. Meine Mutter lag im Sterben, ich verbrachte die Nacht neben ihr auf einem Stuhl im Bethesda in Küsnacht, las ein Buch von Arno Camenisch und hörte das Lied von Büne und dachte: Kleine Kinder leben in ihrer kleinen Welt, und alte Menschen leben auch wieder in ihrer kleinen Welt, sie bekommen nichts mit von den angstvollen Zeiten in dieser grossen Welt. Meine Mamma fragte noch einige Tage zuvor: «Was isch das eigentli, Corona?» Sie war zum zweiten Mal daran erkrankt, sie starb am anderen Morgen, am Geburtstag meines ältesten Enkel.
28. September. Wenn es bei uns Herbst ist und an vielen Tagen grau und kalt und bald neblig und der nächste Sommer so weit weg, als würde er gar nie mehr kommen, dann … diese Bar, das Meer ganz nah, es ist zu riechen, der endlose Sandstrand Es Trenc, die sanften Wellen, die Sonne, die am Horizont untergeht, immer kitschig, immer himmlisch-schön, und am anderen Morgen wieder auftaucht; wenn ich da sitze, vielleicht mit einem Buch, Musik ertönt, ganz verschiedene, Paolo Conte oder die Beatles oder (auch) Dylan und Springsteen, und ein Glas Negroni vor mir und ein Teller Wok noodles con verduras y pollo campero, es ist einfach magisch-romantisch. Und ja, sie hat den richtigen Namen, diese Bar im Dorf Ses Covetes auf der Insel Mallorca. «Bar Esperanza».
23. Oktober. Das Datum ist zufällig gewählt, ich habe nachgeschaut, es war ein Donnerstag, ich war abends im Volkshaus bei einem Konzert von Konstantin Wecker, aber es hätte jeder andere Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag oder Mittwoch in diesem Jahr sein können, denn jeder Tag beginnt gleich: Mit einem Espresso, meistens einen zweiten, fast immer im Totò im Seefeld und bald nicht mehr dort (>April, >Dezember). Aber halt, das Foto! Diesmal kein Espresso, nicht schwarz, ohne Zucker, die Waage sagt, es sei besser so. Nein, ein Cappuccino. Ein wunderbarer Cappuccino, schaumig, liebevoll mit Herz zubereitet und daneben noch etwas. Eine Sünde. Sie soll stehen für das Jahr, es soll und darf und muss solche Tage geben dürfen. Der 23. Oktober war so einer, sagt das Datum zum Foto. Nicht im Totò. Ich glaube, es war im «Montmartre», nicht in Paris, in Zürich.
5. November. Luna. Lateinisch klingt es noch viel schöner. Dabei ist er jedesmal schön, bezaubert uns immer wieder, fasziniert uns, lässt uns an die Unendlichkeit denken und nach draussen gehen, manchmal mitten in der Nacht, wir schauen hoch zum Himmel, staunen, bestaunen ihn. In diesem Jahr besonders, ein Supermond, an drei Monaten nacheinander, und am 5. November war er der grösste, «Bibermond» oder «Nebelmond» hiess er, und so nah war er der Erde seit 1948 nie mehr und wird es erst 2036 wieder sein, 356 000 Kilometer entfernt. 14 Prozent grösser, 30 Prozent heller als ein normaler Vollmond. Ein Ereignis, ich ging nach Zumikon, zum höchsten Punkt, links unten der Golfplatz, wartete, bis er am Horizont auftauchte – und war gefesselt, als Wolf hätte ich geheult. Ich war in diesem Moment mondsüchtig, obschon Wissenschaftler sagen, das stimme nicht, weder beeinflusse er den Schlaf, noch den Haarwuchs, eine Wundheilung oder die Geburtenrate. Und doch süchtig nach diesem Bild, immer wieder in anderen Farben – La Luna, weiblich, der Mond, männlich, geschlechtlos wie bei den Chinesen, sie/er/es war immer wieder in der Literatur, Musik, Kunst ein Thema. Auch die «Dark Side of the Moon» (Pink Floyd), «Die dunkle Seite des Mondes» (Martin Suter).
13. Dezember. Eigentlich gehört ein Lied dazu, «Im letschte Tram» von Polo Hofer und seiner Schmetterband, noch einmal durch das Leben fahren und Abschied nehmen. Das Tram fuhr noch einmal durch das Seefeld, der Zweier (und auch der Vierer), ein letztes Mal an diesem Samstag, weil es fortan, so will es die VBZ, anderswohin fahren muss. Die Welt ist in Zürich auch bei den Tramlinien in Unordnung geraten. Und es hielt nochmals hier, bei der Höschgasse, vor dem Ristorante «Totò», doch (> April), das ist eine andere Geschichte, auch eine traurige. Aber eben: irgendwie symbolisch. Etwas endet, anderes beginnt, eine Tür schliesst, eine Neue geht auf, man weiss noch nicht, wohin es führt. Oder doch: Der Zweier (und auch der Vierer) hält neu beim Kreuzplatz. Vor dem «Bohemia».
2026 soll gut werden.
Dazu das Lied, Lucio Dalla singt es, «L’anno che verrà», es heisst darin:
Aber das Fernsehen hat gesagt, dass das neue Jahr eine Veränderung bringen wird, und wir alle warten schon gespannt darauf, und es wird dreimal Weihnachten geben und den ganzen Tag wird gefeiert, jeder Christus wird von seinem Kreuz steigen, auch die Vögel werden zurückkehren. Es wird zu Essen geben und das ganze Jahr Licht, auch die Stummen können sprechen, während die Tauben dies schon tun.»
Lucio Dalla mit «L'anno che verrà» (YouTube)
Somit: E guets Nöis.
Oder noch das kommt mir beim Schreiben in den Sinn, wenn ich an das neue Jahr denke: Es wäre gut, etwas weniger zu denken «Hätte ich doch», hätte ich doch nur, und ich denke es manchmal, wenn ich an meine lieben Eltern denke, «Mamma, Papa, hätte ich doch das noch gesagt, gefragt», und es könnte ein Vorsatz sein, weniger «Hätte ich doch…», mehr einfach tun, sagen, fragen. Leben.
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