Ein Tag mit Peter Bichsel
Blog-Nr. 388
Die Suche nach dem ersten Satz – ein Nachruf
Ich hatte die Skischuhe schon angezogen, den Helm auf dem Kopf, da schaute ich nochmals auf mein Handy, es könnte ja sein, dass jemand «Ski heil» wünscht oder «viel Spass». Ich werde das erste Mal in diesem Winter, der bei uns am See keiner war, auf einer Piste stehen.
Eine Nachricht ploppte sofort auf: «Peter Bichsel gestorben».
Auf Tagi-online erscheint bereits ein Nachruf, nur kurz nach der Todesmeldung. Die Medien müssen vorbereitet sein, Journalisten Nachrufe schreiben, bevor die Menschen gestorben sind, das Leben verlangt Schnelligkeit auch nach dem Tod.
Peter Bichsel wurde 89.
Und er hat mein Leben geprägt, vielleicht gar beeinflusst. Ich dachte immer, so schreiben zu können wie er, das muss himmlisch sein. Und dabei sagte er einmal: Schreiben habe sehr viel mit Nicht-Können zu tun. «Ich lerne es nie, und wenn ich die Chance gehabt hätte, die Tour de France zu gewinnen, wäre ich nicht Schriftsteller geworden.» Oder: «Ich habe geschrieben, weil ich ein schlechter Fussballer war.»
Ich war in der dritten Klasse, als meine Mutter am Mittagstisch sehr besorgt sagte, die Lehrerin habe beim Elterngespräch gesagt, ich sei sehr schlecht in der deutschen Sprache und ihr empfahl, ich müsse unbedingt mehr lesen. Lies Bücher, sagte mir meine Mutter somit, und sie legte mir «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» von Peter Bichsel auf den Tisch, für mich immer noch eines der schönsten Bücher, die es gibt, diese Liebesgeschichte vom Milchmann, der nur weiss, dass sie normalerweise zwei Liter Milch nimmt in ihrem verbeulten Kessel und 100 gr Butter und eine gut lesbare Schrift hat, und Frau Blum lernt den Milchmann nie kennen.
Ich las alles, was Peter Bichsel schrieb, seine Bücher, seine Kolumnen, und ich hörte ihm noch viel lieber zu, mit seiner näselnden Stimme, im Radio oder TV, bei Lesungen oder Interviews, wie er oft eine Pause machte, bis er eine Antwort gab, wie er lange überlegte, wie er etwas formulieren wollte, wie überraschend dann seine Sätze waren, ganz einfach oft und doch kompliziert, weil sie viel Raum gaben, um darüber nachzudenken.
Ich war jetzt oberhalb von Sils im Engadin auf der Piste, blau der Himmel, die Sonne, wunderbar der Schnee, fuhr los, zum ersten Mal in diesem Winter. Der erste Schwung, zaghaft noch, der Hang war breit, wenig Leute, und ich überlegte mir nicht, welcher nächste Schwung kommen soll, und ich dachte, es ist wie beim Schreiben – der erste Schwung, endlich, vielleicht brach man ihn nochmals kurz ab, dann der zweite, der erste Satz, endlich, vielleicht strich man ihn nochmals durch, dann der zweite. Es ergibt sich, was folgen soll.
Einen Text zu schreiben habe viel mit dem Suchen nach dem ersten Satz zu tun, er brauche für eine Kolumne selten ein Thema, sondern nur einen ersten Satz, und der erste Satz produziere dann weitere Sätze, das Thema bleibe vage im Hintergrund.
Einmal, bei einer Lesung im Literaturhaus in Zürich, erzählte Peter Bichsel, er habe «Jodok, Jodok», immer wieder «Jodok» in seine Schreibmaschine getippt und schon gedacht, das werde nie eine Geschichte, bis ihm der erste Satz eingefallen war: «Von Onkel Jodok weiss ich gar nichts, ausser, dass dieser der Onkel des Grossvaters ist.» Und so begann dann seine Kolumne.
Oder auch das erzählte Bichsel an diesem Abend im Literaturhaus: Er sei ein guter Skifahrer gewesen, doch eines Tages, er sei 30 gewesen und Primarlehrer und in einem Skilager. Er sei einen Hang herunter gefahren, gestürzt, wieder aufgestanden, wieder gestürzt, kalt sei es gewesen, und als er im Schnee lag, habe er sich gefragt: «Warum mache ich das?» Er habe sich zur Antwort gegeben: «Weil ich es kann.» Er habe die Ski auf die Schulter genommen, drei Stunden lang den Berg runter gestampft und sei seither nie mehr Ski gefahren.
Oder auch das erzählte Bichsel an diesem Abend im Literaturhaus: Er sei ein guter Skifahrer gewesen, doch eines Tages, er sei 30 gewesen und Primarlehrer und in einem Skilager. Er sei einen Hang herunter gefahren, gestürzt, wieder aufgestanden, wieder gestürzt, kalt sei es gewesen, und als er im Schnee lag, habe er sich gefragt: «Warum mache ich das?» Er habe sich zur Antwort gegeben: «Weil ich es kann.» Er habe die Ski auf die Schulter genommen, drei Stunden lang den Berg runter gestampft und sei seither nie mehr Ski gefahren.
«Ich höre Geschichten über Fussball gerne. Zu einem Fussballspiel gibt es nicht viel zu sagen oder immer wieder dasselbe. Aber zu erzählen darüber gibt es viel. Darin macht der Fussball für mich Sinn. Er macht seine Zuschauer zu Erzählern.»
Peter Bichsel im TA
vor der Fussball-WM 2010 n Südafrika.
Aber aus dem Primarlehrer Bichsel wurde der Schriftsteller Bichsel. Der berühmte Kritiker Marcel Reich-Ranicki lobte ihn 1964, nach dem Erscheinen des Buches über Frau Blum und den Milchmann, als «hochbegabten Autor» und sagte, er schreibe Geschichten, in denen nichts oder fast nichts geschehe.
Und am Abend, nach dem Tag auf der Skipiste im Engadin, las ich noch den Nachruf im «Tages-Anzeiger» von Martin Ebel. Bichsel habe mal gesagt, Kinder würden in Fragen leben, Erwachsene in Antworten. «Wenn man es recht bedenkt», schreibt Ebel, «ist Peter Bichsel lebenslang ein weises Kind gewesen. Er wird fehlen, aber seine Fragen, seine Sätze, seine Geschichten bleiben.»
Und am Abend, nach dem Tag auf der Skipiste im Engadin, las ich noch den Nachruf im «Tages-Anzeiger» von Martin Ebel. Bichsel habe mal gesagt, Kinder würden in Fragen leben, Erwachsene in Antworten. «Wenn man es recht bedenkt», schreibt Ebel, «ist Peter Bichsel lebenslang ein weises Kind gewesen. Er wird fehlen, aber seine Fragen, seine Sätze, seine Geschichten bleiben.»
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Schreiben habe sehr viel mit Nicht-Können zu tun |
Auch Sätze wie diese, in seinem letzten Interview mit ihm, kürzlich im Magazin der «NZZ am Sonntag», in dem es (auch) um Liebe ging und das Sterben: «Ich liebe Gott, aber er liebt mich nicht, weil es ihn nicht gibt. Aber es ist mir völlig wurst, ich liebe ihn trotzdem. Und ich rede mit ihm.»
«Was bedeutet Liebe, Herr Bichsel?» wurde er im Interview noch gefragt. «Liebe ist: ich will nicht, dass du stirbst», gab er zur Antwort. Aber er habe das Wort «Gernhaben» lieber, das sei etwas stärkeres als Liebe. «Gernhaben ist freier von der Lüge. Ich liebe dich, was soll das schon heissen?».
Wunderschön auch der Titel im Nachruf im Tagi: «Was er schrieb, kann man nicht besser sagen.»
Zum Glück bleibt vieles für immer im Kopf. Wieder zu Hause muss ich sofort die Geschichte mit der Frau Blum und jene mit dem alten einsamen Mann, der sich fragt, warum Dinge so heissen wie sie heissen und für den der Stuhl nun Wecker hiess, lesen. Und viel anderes. Und besonders auf seinen ersten Satz schauen.
Und auch diesen wunderbaren Dokumentar-Film über Peter Bichsel, «Zimmer 202» von Eric Bergkraut, nochmals sehen. Bichsel ist in Paris, was ihn eigentlich gar nicht interessiert, denn er will von Paris, wo er zuvor nie war, nur jene Bilder im Kopf haben, die er über die Stadt gelesen oder in Filmen einmal gesehen hat.
Und so sitzt er meistens im Zimmer 202 des Bahnhofhotels Lorraine, flaniert rund um den Gare de l'Est, sitzt auf einer Bank oder in einem Bistro und liest die «L' Equipe», raucht ständig, beobachtet still die Welt, redet zwischendurch wunderbare Bichsel-Sätze und geht dann wieder in sein Zimmer, zieht die Vorhänge auf und schaut aus dem Fenster oder am Laptop die Tour de France – wegen Fabian Cancellara, und dann erfasse ihn ein «patriotisches Würgen», wie er sagt. Das würde ihn auch bei einem Meerschweinrennen passieren, wenn das Meerschwein ein Schweizer Meerschweinchen wäre.
Bichsel, der gerne Schwingfeste besuchte und Spiele des FC Solothurn oder irgendeines in einem Nachbardorf in der 4. Liga, ist der wohl schweizerischste aller Schweizer Schriftsteller. «Des Schweizers Schweiz» ist eines seiner Bücher.
Am 24. März wäre Peter Bichsel 90 geworden.
(Dieser Text wurde nachträglich noch ergänzt)
Ein früherer Text: Still
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