Kiosk, ein richtiger

 Blog-Nr. 367

 Eine Serie über Orte
– Heute (6): Kiosk

 

Vieles gibt es nicht mehr in unserer Welt. Vieles, das einst so selbstverständlich war. Und an manches erinnern wir uns gar nicht mehr. Oder denken: schön war’s, damals.

Auch im Quartier Seefeld in Zürich war einiges anders. (Werden auch jene denken, die hier eine Wohnung suchen). Läden mussten schliessen, Restaurants, kultige Bars mit Musikboxen, das Kino, «8» hiess es erst, dann «Razzia», schöne, alte Häuser wurden abgebrochen.

Doch ihn gibt es immer noch, seit 1995, inzwischen 30 Jahre ist er hier, an der Tramhaltestelle Fröhlichstrasse, zwischen der Bäckerei Wüst und einem Laden, der momentan leer steht – der Kiosk.

Ein Kiosk für, nicht nur, aber vor allem, Zeitungen. Wie es ihn früher gab, an jedem Bahnhof und an vielen anderen Orten, und es war schon damals nicht nur ein Zeitungskiosk, sondern ein Treffpunkt für vieles.

Ich würde rasch zum Kiosk gehen, sagte ich als Kind manchmal meinen Eltern, eine Zeitung holen und ging auch, aber nicht immer nur dorthin, sondern auch noch nebenan, zur Telefonkabine, solche gab es damals überall und an jedem Bahnhof; ich ging hin, um mit dem Schulschatz zu telefonieren, aber dann nahm der Vater oder die Mutter ab, und ich hängte manchmal wieder auf. Aber das sind andere Geschichten.

Kioske waren immer so wichtig in meinem Leben als Journalist, in allen Ländern, überall habe ich sie gesucht und besucht und bin oft weite Wege gegangen, um einen zu finden, weil ich Zeitungen lesen wollte und das Neueste aus der Welt damals nur darin finden konnte, ohne die kleinen Dinger heute; ich kaufte manchmal auch Zeitungen, dabei verstand ich die Sprache gar nicht, aber ich musste sie in den Händen halten, durchblättern.

Doch dieser Kiosk, der Kiosk Seefeld, so steht es draussen auf der Tafel, da gibt es noch heute jeden Tag die neuen Zeitungen, von denen es immer weniger gibt und deren Auflagen immer weiter sinken, weil immer weniger Menschen ihre Zeitung noch auf Papier lesen.

Zeitungen aus vielen Ländern

 Aber hier: Klar, Tagi, NZZ, Blick, aber auch solche aus dem Ausland, die «Süddeutsche», «Welt», «Frankfurter», «Bild» die «Zeit», die «New York Times», «Financial Times», der «Corriere della Sera», die türkischen Zeitungen «Sözcu» und «Sabah», noch einige andere.

Aber nicht nur Zeitungen, sondern auch Magazine, ganz viele, man hat das Gefühl, jedes Magazin, das noch irgendwo gedruckt wird, ist hier erhältlich, ganz zuoberst im Regal, halb abgedeckt durch Kartons, auch noch solche, deren Titelbild die Kinder nicht sofort sehen sollten oder nicht nur Kinder.

Auch diese Magazine werden, erstaunlich in Zeiten, in denen das Internet dafür viel diskreter ist, weiterhin gesucht. Einmal kam ein Vater, er verlangte nach dem «Playboy», er wolle diesen seinem Sohn in die Rekrutenschule schicken. Nehmen wir an, es stimmt so, der Vater sagte beim nächsten Besuch, der Sohn habe nicht so Freude gehabt und sich geschämt. Der Vater nahm jetzt die NZZ.

Es ist ein Samstagmittag, ein Tag im November, als es auch in Zürich für einmal sonnig und der Himmel blau war, immer wieder hält draussen ein Tram, der Zweier oder der Vierer.  Morgens um halb sieben öffnet der Kiosk, von Montag bis Samstag.

Fast jede Minute kommt jemand zur Türe herein, schon früh am Morgen. Einer holt die Wochenendausgabe der «Süddeutschen» ab, wie jeden Samstag, er lässt sie reservieren; ein Kind, vielleicht 13, nimmt sich ein Schleckzeug, wohl mit dem Sackgeld bezahlt (wissen es die Eltern?), immer wieder werden Zigaretten verlangt, «Rauchen erst ab 18» ist irgendwo zu lesen, ungesund sei es, die Jungen nehmen meistens E-Zigaretten,

Und dann, es ist Samstag, mit der Hoffnung auf das Los- und Geldglück, immer wieder werden Lottoscheine abgegeben, oder jemand steht vor einem Apparat, an dem auch gewettet werden kann, auf jedes Spiel, das in irgendeiner Ecke der Welt an diesem Tag gespielt wird. Im Fussball zur K-League in Südkorea, zur Primera Division in Uruguay, beim Africacup spielt Kap Verde gegen Mauretanien oder beim Basketball der NBL in Australien Sydney King gegen Brisbane Bullets, es gibt an diesem Samstag auch den Frauenslalom in Levi oder das Rugbyspiel RC Toulon gegen Aviron Bayonne, bei einem Unentschieden gewinnt man das 21.27-fache.

Seit 30 Jahren hier

Der Kiosk verdient daran. 25 000 Franken waren es im ersten halben Jahr 2024. Und es ist ein Kiosk für manches, Süsswaren, klar, Kaugummis, Sugus, immer noch, Kräuterzückerli, Ricola, Getränke, auch alkoholische, Glacés nur im Sommer, selbst Regenschirme hat es, SIM-Karten.

Während Corona befürchteten die Besitzer, es werde schwierig werden, doch sie täuschten sich, sie verkauften in dieser Zeit auch WC-Papier, Infektionsmittel, Sonnencreme und Nastücher.

Von den Besuchern an diesem Samstag sind viele Stammkunden, es gibt solche, die längst weggezogen sind aus dem Seefeld, wegziehen mussten, aber doch noch hierherkommen, von weiter weg, dem anderen Seeufer, aus Treue, aus Dankbarkeit, dass es noch einen solchen Ort gibt. Einer erzählte einmal, wie ihn sein Vater früher ermutigt hatte, anstatt Süssigkeiten doch lieber Kinderzeitschriften zu kaufen. Die Familie war dann nach England gezogen, und in der Schule hatte er in der Klasse erzählt, dass er das Lesen am Kiosk gelernt hatte – die Schüler hätten ihm dann spontan applaudiert.

Kioske sind auch Orte der Begegnungen, es gibt immer wieder Gespräche; die Menschen, die Kioske führen, hören manchmal nicht nur, was die Besucher kaufen wollen, sondern auch, welche Sorgen sie gegenwärtig plagen, oder sie wollen einfach reden, darüber, was sie gerade bewegt. «Dieser Trump und dieser Putin, wohin führt das noch?», sagt einer an diesem Samstag. Eine Frau erzählt, dass es ihr nicht so gut gehe, Beziehungsprobleme.

Und es kämen Menschen aus ganz verschiedene Schichten: Chirurgen, Expats, Strassenarbeiter, Literaturprofessoren, Politiker, Künstler, Barbesitzer, Kinder, Pensionierte – und eben solche, die nach den Heftlis hinter dem Karton fragen, weil sie es im Internet nicht mehr können oder dürfen.

Aber die Frage ist eben: Wie lange gibt es noch Kioske, einen solchen wie im Seefeld, einen richtigen Kiosk, nicht ein Convenience Shop am Bahnhof oder Tankstellen-Läden eines Grossverteilers, in dem es alles zu essen und trinken gibt, und daneben in irgendeiner Ecke noch paar Zeitungen und Magazine, eher versteckt?

Die Antwort hängt mit dieser Frage zusammen: Wie lange gibt es noch gedruckte Zeitungen und Magazine.

Könnte man am Automaten im Kiosk Seefeld darauf wetten und es wären Jahreszahlen aufgeführt, ich würde beim Jahr 2030 keinen Franken einsetzen. Die Quote wäre wohl 1.05.

 

Das Lied zum Text:

 
«Kiosk» von Polo Hofer und Rumpelstilz (Youtube)

 

Frühere Orte:

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