Was wäre wenn

Blog-Nr. 333



In der Serie «Orte» versuche ich mit Gedanken in wenigen Worten Orte zu beschreiben, die mir etwas bedeuten – dazu hier ein Text, der auch, aber nicht nur, persönlich gefärbt ist, nicht ganz frei erfunden, aber auch, über Orte, Zufall und eine blöde Lehrerin, die ein Glück war. 



Foto fw


Als er zur Welt kam, sind seine Eltern umgezogen, aus der Stadt in ein Dorf, nicht grad aufs Land, aber doch dorthin, wo man sich auf der Strasse  noch meistens kennt und grüsst, heute noch tut man das, auch wenn im Dorf viele wohnen, die nicht mehr von hier sind und kaum Deutsch sprechen, und in der Schule sass er zufällig neben einem, der später sein Freund wurde und es bis heute ist ... 

... und weil sein Vater nicht wollte, dass er Fussball spielte, begann er mit Handball und erst viel später mit dem Ball am Fuss, wobei er im Tor stand, weil eines Tages im Training einer ausfiel und kein Ersatz da war, und er musste der Ersatz sein, und es gefiel ihm, und in der Schule sagte die Lehrerin einmal besorgt seiner Mutter,  der Sohn habe so Mühe mit der deutschen Sprache, er solle mehr Bücher lesen, und er begann Bücher zu lesen, tut das bis heute oft, mit Peter Bichsel und seinem Milchmann begann es, er hat auch sonst alles gelesen von ihm, und mit dem Lesen lernte er schreiben, und vielleicht wäre aus ihm etwas ganz anderes geworden, wenn diese Lehrerin nicht gewesen wäre …

… und er schreibt heute noch gerne, und mit dem, der zufällig neben ihm auf der gleichen Schulbank sass, ging er auch erstmals auf eine Reise, nach Italien, per Autostopp, so reisten damals die Jungen, und in Italien verliebte er sich zum ersten Mal, unsterblich verknallt war er, das Mädchen, das schon eine Frau war, sass in einem Ristorante am Nebentisch, sein Freund hatte sie angesprochen, weil er selber etwas scheu war, aber er hatte mit dem Mädchen, oder eben der jungen Frau, dann schöne Tage und nicht nur Tage verbracht, sie konnten zwar nicht reden miteinander, weil sie die andere Sprache nicht verstanden, aber sonst verstanden sie sich gut, sie war einige Jahre älter, sie zeigte ihm die Liebe, die jedoch nur eine kurze Sommerliebe bleiben konnte, der erste richtige Schmerz im Leben, und er ging Jahre später nochmals an den gleichen Ort am Mare, er hoffte, vielleicht, es könnte ja sein, er suchte sie und ging wieder in dieses Ristorante, Da Enzo hiess es, er weiss es noch, doch er traf sie nirgends, sie war wohl weggezogen, vielleicht auch wegen der Amore, was wäre geworden, wenn …

… im Leben kommt doch immer wieder die Frage, was wäre wenn, wenn nicht dieser Ort, sondern ein anderer, nicht dieser Mensch genau in diesem Moment im Ristorante gesessen wäre, sondern ein anderer, oder im Zug sich die Augen getroffen hätten oder an einer Bar oder auf dem Floos in der Badi oder auf dem Bügellift oder irgendwo, vielleicht an einem Konzert, denn er ging oft an Konzerte ...

... was wäre wenn, vielleicht, zufällig, und zufällig kann auch schicksalhaft sein, ein Glück, und das Glück darf man nicht suchen und schon gar nicht provozieren, man muss es annehmen, wenn es an der Tür steht, plötzlich, nicht erwartet, aber immer offen sein, so denkt auch er, wenn er zurückblickt auf sein Leben, er blickt manchmal zurück, das tut man im Alter, doch eigentlich denkt er lieber ans Jetzt, lebt er im Heute, weil vieles bedrücken würde, beim Denken an morgen und dieser Welt, die so durcheinander scheint und fürchterlich ist ...

... aber er spürt, dass ihm Orte wichtig sind, und Orte können ganz klein sein, ein runder Tisch in einem Bistro, in das er immer wieder hingeht und meistens am Morgen seinen Espresso trinkt und einen Latte Macchiato, Orte, an denen man einmal war, oft zufällig und dann nochmals hinging und nochmals und nochmals, es verbindet einen damit etwas, es müssen nicht nur Menschen sein, sie bleiben aber auch im Kopf ...

... so denkt und lebt er, Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt, das kann überall sein, und Heimat muss deshalb nicht nur ein Ort sein, ein einziger, dort, wo man aufgewachsen ist, sondern können viele und immer wieder andere Orte sein, nicht nur eine Heimat also, aber die Orte sind oft mit Menschen verbunden, die man gern hat oder lieb oder eben auch, damals, mit fare l’ amore in Italia und dem Mädchen, das schon eine Frau war.

Und manches beginnt wie in der dritten Primarklasse in seinem Dorf, als die Mutter am Mittagstisch sagte, die Lehrerin habe gesagt, im Deutsch sei er schon sehr schlecht. Er fand seine Lehrerin blöd damals, eine dumme ..., er wüsste noch ihren Namen, sagt ihn aber nicht, aber er weiss, sie war sein Glück.

So ist es manchmal, man weiss erst nachher, dass es ein Glück war.


Bisherige Orte:


 (1) Odeon

 (2) Toskana

 (3) Fallacher





Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!