Leben im Sterben

Blog-Nr. 307

Ein Buchtipp



Tränen beim Lesen eines Buches. Mehrmals. Ein Satz ein zweites Mal gelesen, nicht, weil er kompliziert ist, die Sprache ist wie immer bei ihm eher einfach, fast sachlich, sehr ruhig, einfühlsam – einfach wunderbar. Nochmals gelesen, weil man nachdenken will. Und man muss oft nachdenken. Es ist ein Buch zum Nachdenken.

Und es hört plötzlich auf, bevor das eintrifft, um das es im ganzen Buch geht. Und es ist gut, dass es so aufhört, einfach so, auf Seite 240, mit diesen zwei Sätzen: «Manchmal, wenn er eingeschlafen war und sie ihn nicht hatten wecken wollen, waren sie die Letzten am Strand; es war still um sie, die Sonne stand tief, die Schatten waren lang. Es war kühl, David brachte noch eine Decke, Ulla legte sie über ihn, und sie warteten, bis die Sonne ins Meer sank.»

Ende.

Die Sonne, die im Meer versank, steht für das Sterben. Es ist ein Buch über das Sterben. David ist ihr sechsjähriger Sohn, Ulla seine viel jüngere Frau, 42, Malerin und Galeristin, und er, Martin, 76, ein ehemaliger Professor für Rechtsgeschichte. Sie waren, es war sein Wunsch, nochmals ans Meer gefahren, an die Ostsee, er sehnte sich in einem Traum danach, dieses Gefühl nochmals zu erleben.

Ein Buch zum Nachdenken

«Ich wünsche Ihnen noch gute Wochen», hatte der Arzt gesagt, bei dem er noch eine Zweitmeinung geholt hatte. Aber die Diagnose blieb: Bauchspeicheldrüsenkrebs, der Tod ist nur noch eine Frage von wenigen Wochen.

Und jetzt?

Es ist ein Buch über die Frage, was lehrt mich der Tod über mein Leben, über einen Brief, den Martin seinem Sohn David in Abschnitten schreibt, damit er ihn später, wenn er gestorben ist, lesen und ihm etwas Bleibendes hinterlassen kann, es geht darin um die Herkunft, die Liebe, «Erwachsene trauen der Liebe nie wirklich», um Gott, die Arbeit, über Gerechtigkeit, mit Sätzen wie diesen: Das Leben ist nicht gerecht, und Gerechtigkeit ist kompliziert.

Und immer auch um Erinnerung, was ist wichtig gewesen und was nicht? Es geht um eine Affäre seiner Frau, wie Martin damit umgeht, um seine Eifersucht, ein heimliches Gespräch mit dem anderen Mann, um Komposthaufen, die er zusammen mit seinem Sohn baut, er hat manchmal Selbstzweifel, ist traurig, hat auch Angst vor dem letzten Gang ins Sterbehospiz.

Martin möchte seinen Tod gerne erleben, er möchte erfahren, was die Zukunft bringt, was aus seinem Sohn, seiner Frau wird. Ein Buch mit einem traurigen Thema, aber mit vielen glücklichen Momenten, mit Martin, der immer müder wird, «Müdekrank» nennt es sein Sohn.

Beim Lesen des Buches und wenn man den letzten Satz gelesen hat, kommen ständig die Gedanken über das Leben, das gelebte Leben, das jetzige Leben und wie es einmal sein wird, wenn einem bewusst ist, dass das Leben bald gestern sein wird.

Was bleibt von uns, wenn wir einmal gehen müssen?

Und am Ende des Buches, einem Ende, das man nur erahnt, denkt man: Man MUSS dieses Buch allen empfehlen, die man liebt. «Nur die Lebenden können den Lebenden geben, nicht die Toten. Man kann sich an dem freuen, was die Toten gegeben haben, als die noch gelebt haben. Man kann ihre Bücher lesen und Musik hören und Bilder anschauen. Aber sie haben als Lebende für Lebende gemalt, komponiert, geschrieben».

Es geht in diesem Buch um Liebe und das Loslassen. Als Lebende noch das geben, was wichtig ist, für  den bald Sterbenden und die Überlebenden. 

Und vielleicht kann man dann versöhnt gehen.

«Das späte Leben». Von Bernhard Schlink. -
240 Seiten. - Diogenes-Verlag.



PS: Nach dem Lesen ging mir dieses schön-traurige Lied von «Züri West» auf dem neuen Album durch den Kopf: «Blätter gheie», ein vertontes Gedicht von Franz Hohler. Wie die Blätter fallen, im Wind in der Luft nochmals tanzen, sie  dann sterben und es ganz still wird. Ich hörte es gleich wieder, es passt so zu diesem Buch. Traurig, aber doch optimistisch-schön. «Blätter gheie/U irgendwenn wird's stiu/u när isch vrbii/ dass Stärbe so luschtig cha sy».

 Das Video:
 


Am 11. März (20 Uhr), liest und erzählt Bernhard Schlink im Bernhard-Theater, Zürich 


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