Gerd damals, Bruce jetzt

Blog Nummer 272



Dieses Stadion, diese wunderbare Konstruktion mit dem Zeltdach, eine schlichte Schönheit, das dachte ich schon damals, an diesem 7. Juli 1974. Als blutjunger Journalist durfte ich zum Final der Fussball-Weltmeisterschaft nach München reisen, es war mein erster von zehn WM-Finals. Dieses Olympiastadion, immer noch eine der eindrücklichsten Arenen, die es gibt, machte mir grossen Eindruck.

Es war an diesem Sonntagnachmittag nicht sommerlich, es war kühl, nass und wolkig, und ich finde den Artikel in der «Zürichsee-Zeitung» nicht mehr, aber sicher habe ich geschrieben, es sei «typisch Müller» gewesen, dieses 2:1, das Deutschland zum Weltmeister gemacht hat, dieses Tor vom Mann der vielen Tore. Er schien den Ball verloren zu haben, dann drehte er sich kurz, er lag wieder vor seinem rechten Fuss, ein Schuss, nicht scharf, nicht besonders platziert, aber er fand den Weg ins Tor, anschliessend ein, zwei Jubelhüpfer, die Arme nach oben gerissen, keine weiteren Gesten, nur Freude und Glück.

Typisch Müller eben, ein kleiner, stämmiger Mann mit gewaltigen Oberschenkeln und rudernden Armen.

Final 1974 in München: Gerd Müllers Tor zum WM-Titel

1974 war das Jahr, als Willy Brandt seinen Rücktritt gab, Helmuth Schmidt neuer deutscher Bundeskanzler und Richard Nixon in Amerika gestürzt wurde.

1974 war auch das Jahr, als der Musikkritiker Jon Landau (der später sein Manager wurde) schrieb: «Ich habe die Zukunft des Rock n’n Roll gesehen, und sie heisst Bruce Springsteen. Er gab mir das Gefühl, zum ersten Mal Musik zu hören».

Dieser Bruce Springsteen, 25 damals, hatte anfangs Sommer 1974 einen kleinen Bungalow in West Long Branch, New Jersey, seinem Geburtsort, gemietet, und auf der Bettkante, so steht in seiner Autobiografie, habe er an einem Nachmittag zu schreiben begonnen und mit der Gitarre Takte dazu gespielt. Die Arbeit sei erst nach sechs Monaten der Irrwege und Fehlschläge fertig gewesen.

Herausgekommen ist, im nächsten Jahr, das erste Album von Bruce Springsteen mit seiner E Street Band, er selber nennt es eines seiner besten: «Born to Run», entstanden aus der Stimmung eines endlosen Sommerabends, sagt Springsteen, Menschen, die aus dem alten Leben fliehen und woanders neu anfangen. Im Titelsong «Born to Run» heisst es am Ende:

«Der Highway ist verstopft von gebrochenen Helden,
 die ein letztes Mal Vollgas geben.
 Jeder ist auf der Flucht heute Nacht,
 aber es ist kein Ort mehr übrig,
 an dem man sich verstecken könnte.
 Zusammen werden wir mit der Traurigkeit leben können, Wendy.
 Ich werde dich lieben mit all dem Wahnsinn,
den ich in meiner Seele trage.»

Spass mit der E Street Band

1974 war auch das Jahr, in dem in der Village Voice, einer Wochenzeitung in New York, dieses kleine Inserat erschien: «Musiker gesucht» war der Titel, ein Drummer und ein Pianist sollen es sein und singen sollen sie auch können, für die neue Band von Bruce Springsteen & E Street Band. Von 10 Uhr morgens bis 6 Uhr abends könne man anrufen.

Es meldeten sich zum Casting ein Max Weinberg und ein Roy Bittan.

49 Jahre später, an diesem Sonntag, es ist in München ein richtiger Sommertag, schwülwarm tagsüber, abends einige Wolken, aber für einmal gewitterlos, und das Olympiastadion sieht immer noch aus wie damals. Es herrscht eine friedliche und entspannte Stimmung, 70 000 sind gekommen, kein Platz ist leer, viele suchten dringend noch eine Karte, und die Leute jubeln begeistert, als die Band abends die Bühne betritt, sogar vier Minuten früher als geplant. Das ist Arbeitsethik.

Zuerst Max Weinberg, «the Mighty Max», nennt Springsteen ihn, 72 ist er heute, er sieht eher aus wie ein Anwalt der Band; dann Roy Bittan, der «Professor», er ist 74, und zuletzt kommt der Boss, Bruce Springsteen. Weinberg und Bittan, sein Schlagzeuger und Pianist, seit 49 Jahren.

Auch in München der Abschluss: «I'll See You in My Dreams»
 (Youtube-Video Fredy Wettstein)

Es war wie in Barcelona, auch dort im Olympiastadion, wie in Rom, wie in Zürich, wo ich ihn dieses Jahr schon überall erleben durfte; es war so, wie auch in allen anderen Städten auf seiner Tour durch Europa, nach München folgt noch Monza. 31 Städte in 88 Tagen – und überall schwärmten die Menschen von der Leidenschaft, der Energie, dem Spass, den diese Band ausstrahlt und Springsteen, der so gut Trost spenden kann in trüben Zeiten und das Leben feiert trotz aller Schatten und Wirrnisse, das Leben wie es ist und vergeht. Er erinnert in seinen Konzerten stets an den verstorbenen George Theiss, der ihn in jungen Jahren zu seiner ersten Jugendband «Castiles» gebracht hat, er ist kürzlich an seinem Totenbett gestanden. «Last Man Standing» ist das wunderbare Lied dazu.

Dann wieder, ohne Ansage, «One, two, three, four», der nächste Song, in München sind es 25, es waren auch schon mehr.

Nach dem Konzert kürzlich in Hamburg schrieb ein Journalist, er sei eigentlich Musikkritiker und sollte Distanz wahren, aber er müsse sich entschuldigen, es folge jetzt in seinem Text nur Lobhudelei. «Danke Bruce» setzte er als Titel.

Jetzt also München, und Weinberg trommelt und Bittan streichelt und bearbeitet seine Tasten und Springsteen, ganz in Schwarz und mit seinem Kurzarmhemd, kneift manchmal seine Augen zusammen, ist bestens gelaunt, nie müde. Vier der Lieder, die sie vor 49 Jahren für das Album «Born to Run» aufgenommen haben, stehen auch jetzt auf der Setlist: «Backstreets», «She’s the One» «Tenth Avenue Freeze-Out» und eben das Titelstück «Born to Run».

Es ist hinreissend, es ist die Tour, in der Springsteen immer wieder auch auf sein Leben zurückblickt, mit «No surrender» haben sie auch in München  begonnen, nie aufgeben, kein Rückzug, so sollen wir denken. Glück ist oft ein Gefühl nur für den Moment, «Sekundenglück» heisst ein Lied von Grönemeyer, bei Springsteen dauert das Glück viel länger, in München genau 2 Stunden 44 Minuten.


Zum ersten Mal bei Springsteen: Vater und Sohn

Zurück zu Gerd Müller. Eigentlich ist er ja auch ein Kollege von Springsteen, er hat einst eine Platte herausgebracht, sie ist auf Discogs, der grössten Onlinedatenbank, mit keinem einzigen Stern bewertet, ein Sammler zahlte immerhin einmal 38.65 Franken dafür. Der Titel schreckt schon ab: «Dann macht es bumm.»

Gerd Müllers Reich war ja auch der Strafraum. Er starb, 75-jährig, vor zwei Jahren nach einer langen Krankheit.

Bruce Springsteens Ball ist seine Gitarre, das Piano, die Mundharmonika und seine Stimme. Die prophezeite Zukunft des Rock ‘n’Roll soll noch lange Gegenwart sein. Er macht die Menschen glücklich, wenigstens für paar Stunden. In München auch einen Vater mit seinem Sohn, sie waren zum ersten Mal an einem Konzert von Springsteen, hatten sich extra ein Leibchen drucken lassen.

Zuletzt steht Bruce wieder alleine auf der Bühne, ohne Band, nur mit seiner Akustikgitarre und der Mundharmonika, die Handys erleuchten das Stadion.

«Ich werde dich in meinen Träumen sehen,
 oben an der Flussbiegung.
 Denn der Tod ist nicht das Ende.
Ich werde dich in meinen Träumen sehen,
 wenn all unsere Sommer zu Ende sind», 

ist eine Textzeile in «I'll See You in My Dreams».

Wir gehen mit einem Lächeln in die jetzt dunkle Münchner Nacht hinaus.




«Born to Run», das erste und eines der besten Alben



Weitere Texte zu Auftritten von Bruce Springsteen:

Kommentare

  1. Uli aus Berlin24.7.23

    Sehr guter Blog, vor allem Konzertkritik von Bruce

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