Sehnsucht


Wir alle haben unsere Sehnsuchtsorte. Zufällig mal entdeckt, vorbeigefahren, angehalten, kurz geblieben, wieder gekommen und im Kopf nicht mehr weggebracht. Es ist wie beim Verlieben. Warum, weiss man nicht genau. Es ist einfach so. Ein erster Blick, eine erste Begegnung, flüchtig noch, aber irgendwie sofort vertraut.

Bei Menschen wie bei Orten.

Wie bei Cas Concos, oder korrekt: Cas Concos des Cavaller, einem Dorf, mehr Kaff, aber positiv gemeint, im Südosten der Insel Mallorca. Es hat eine Kirche, eine Hauptstrasse, einen Kern mit vielen Häusern, eine Galerie, eine Bäckerei, eine Apotheke, ein Immobilienbüro, ein paar Restaurants, und eines, das besonders anziehend ist, das Can Mel, das jeden Abend und das ganze Jahr über fast immer ausgebucht ist, und, gleich nebenan einen Laden für alles, mit Maria, die 89 ist, der Abuela, Grossmutter, inzwischen auch Urgrossmutter und immer noch jeden Tag im Laden steht oder sitzt und scheu lächelt. Oder Javier, ihr Enkel, der jeden Tag in seinem Restaurant arbeitet, das er immer wieder erweitert und grösser macht, er wurde ein Freund.

Das war die erste Begegnung, der erste Blick, der im Kopf blieb und im Herzen. Damals vor bald zehn Jahren, bei einer längeren Auszeit – Cas Concos, nie etwas gehört zuvor, auf keiner Landkarte und in keinem Buch gesucht. Einfach gefunden, zufällig. Verliebt.

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Maria (89), noch jeden Tag in der Botiga Can Mel

Und seither immer wieder hier, wie jetzt. Das Meer ist nicht weit weg, und an diesem Sonntag lag ich im Sand, hörte einfach den Wellen zu, immer das gleiche Geräusch. Dazu der Blick über das Wasser in die Unendlichkeit, zwischendurch Musik im Ohr und gelesen und manchmal schlechtes Gewissen gehabt, weil die Welt so viel Schreckliches erzählt, und viele Menschen nicht mal davon träumen können von solch wunderbar poetischen Bildern hier am Meer, weil sie flüchten müssen, vor Raketen, in U-Bahn-Schächten und nur einen Gedanken haben: überleben, irgendwie.

Und jetzt kommt ein Bild in den Kopf, ich hatte es damals aus einer Zeitung herausgerissen, wenige Tage nachdem die Russen diesen fürchterlichen Krieg begonnen hatten: Eine Frau umarmt innig ihren Mann, sie flüchtet in den Westen, er muss bleiben, die Militäruniform trägt er schon, sie können nicht wissen, ob sie sich je wiedersehen. Die gleichen Bilder wird es auch jetzt geben, auch viele auf der russischen Seite, Frauen, die um ihre Männer und Söhne fürchten.


Am anderen Tag bin ich in Santanyi, dem grösseren Ort in diesem Teil der Insel, paar Kilometer weg von Cas Concos. Es hat meistens viele Leute hier, viele enge Gassen, Boutiquen, Bars, auch eine von Uwe Ochsenknecht, die Kirche ist schon von ganz weit weg zu sehen, ein Monument von einer Kirche. Viele, die meisten, kommen für ein paar Stunden oder einen Abend nach Santanyi, einige aber leben hier, sind hierher gezogen, weil sie sich auch mal verliebt haben, in die Gegend oder sonst wie, wie diese Frau am Nebentisch in einem Café. Sie hat zuvor spanisch geredet, jetzt deutsch, mit jemandem, der an einem anderen Tisch sitzt.

«Sa Cova», das Lokal von Uwe Ochsenknecht in Santanyi

Und es sind Gespräche, wie sie auch bei uns geführt werden. Am Abend zuvor hätte sie flüchten müssen, sie habe diese ständigen Nachrichten vom Krieg nicht mehr aushalten können, sei in eine Ausstellung und dann an ein Konzert gegangen, klassische Musik, ein Pianist aus Barcelona. Und dann redet (und klagt) sie über die Krankenkassenprämien, die ständig steigen würden, und erst der Strom, das Internet, wahnsinnig sei das, kaum mehr zu bezahlen, alles werde nur immer teurer, auch hier auf der Insel.

Sehnsuchtsorte, sie haben eben auch ihre anderen Seiten, nur die Musik der Wellen im Meer, sie ist immer gleich, zumindest wenn wir nicht Angst haben müssen von Raketen am blauen Himmel, die einer schickt, um uns zu zerstören.

Doch dann lese ich die neue Ausgabe der «Zeit», Alice Bota, die für die Wochenzeitung auch aus Moskau berichtete, schreibt: «Der Krieg teilt Menschen ein in Täter und Opfer, aber auch in die Zuschauenden, diese vom Glück Geküssten: Sie werden heute Nacht nicht vor Raketen fliehen müssen.» Der Titel zum Text heisst «Stell dir vor . . . die russischen Raketen schlügen in Hamburg statt in Kiew ein. Wie spräche man dann über diesen Krieg?»

Ich fahre zurück nach Cas Concos. Noch ist der kleine Ort eine Insel. 2014, als ich zum ersten Mal hier gewesen war, für meine Auszeit aus dem Leben zu Hause, hatte ich ebenfalls die «Zeit» mitgenommen, ich lese es in einem Text, den ich damals geschrieben hatte, der Titel auf der Frontseite hiess: «Europa ist nicht im Krieg. Im Frieden aber auch nicht.»
 
 

Die Musik der Wellen am Meer

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