Für ihn gab es sogar ein Verb: müllern


Er sagte es, als würde man ihn nicht kennen, leise und zurückhaltend, etwas schüchtern gar: «Mein Name ist Müller.» Natürlich wussten alle, wer er ist, damals vor elf Jahren beim Final der Champions League im Estadio Bernabeu in Madrid, Bayern München, seine Bayern, gegen Inter Mailand. 

Gerd Müller. «Bomber der Nation», wie sie ihn nannten, der Mann der vielen Tore, und an diesem Abend sass er in einer Ecke des riesigen Stadions, nicht bei den Edelfans und ganz wichtigen Leute im Klub, er sprach kaum während des Spiels, schaute zu, ein Lächeln manchmal, aber sonst wenig Regung, er wirkte bedrückt, manchmal abwesend, offenbar gezeichnet vom Leiden, aber er war sehr freundlich, bescheiden wie immer, schien eher froh, wenn man nicht mit ihm redete, verabschiedete sich zuletzt und wünschte trotz des Resultats einen schönen Abend. Seine Bayern verloren den Final 0:2.

Müller wollte nie mehr sein, als er war, aber er war ein Grosser, einer der besten Fussballer seiner Zeit, in den sechziger- und siebziger Jahren, Weltmeister, Europameister, dreimal Sieger im Europacup der Meister, wie es damals hiess, viermal deutscher Meister, viermal Cupsieger, siebenmal Torschützenkönig, 365 Tore in 427 Bundesliga-Spielen. Einmal 40 in einer Saison, Lewandowski hat nun 49 Jahre später diesen Rekord gebrochen, 68 Tore in 62 Länderspielen. Er schoss seine Tore in einer Zeit, in der der Fussball ein anderer war, ein Stürmer immer hautnah bewacht wurde von einem, meistens gar von zweien, die keinen Zentimeter von dessen Seite wichen und seine Knöchel suchten.

Er wusste oft selber nicht, wie er traf:
«Wenn du denkst, is eh zu spät».

Müller lief nicht viel, er war kein besonders guter Dribbler, andere schossen härter und präziser, waren schneller, er aber stand im Strafraum immer dort, wo auch der Ball hinkam, er hatte den Instinkt dafür, und er drückte oder schubste oder stocherte ihn dann über die Linie, meist aus kurzer Distanz, einfach irgendwie, mit dem Fuss, dem rechten, dem linken, dem Kopf, dem Bauch, dem Oberschenkel oder auch seinem Hintern, im Fallen, aus der Drehung, aus dem Stand, im Liegen, irgendwie hatte er sich jeweils durchgewurstelt. Er reagierte einfach schneller.

Sein wichtigstes Tor im Nationalteam war sein letztes. Das 2:1 im WM-Final 1974 in München gegen Holland. «Es waren drei Holländer um mich herum, ich starte, täusche an, aber auf einmal kommt der Ball auf meinen linken Fuss. Ich wollte ihn eigentlich mit rechts stoppen und sofort schiessen, aber nachträglich war es ein Glück, dass er auf links kam. Von da springt er ein bisschen weg und kommt direkt auf meinen rechten Innenspann. Und ich kann schön aus der Drehung ins lange Eck schiessen» schildert er die Szene. Deutschland war Weltmeister.

Abends, als beim Bankett zum Eclat kam, weil die Frauen der Spieler nicht dabei sein durften, trat er zurück: «Für die spiel ich nie mehr», sagte Müller.

Das Tor zum WM-Titel 1974 - sein letztes im Nationalteam


Tore schiessen, das konnte er, er reduzierte den Fussball auf das, was zählt und der Sinn des Spiels ist, es gab bald ein Verb dafür: müllern. Der Strafraum war sein Reich. Er wusste oft selber nicht, wie er traf, er sagte: «Wennst denkst, is eh zu spät.» Elfmeter schoss er nicht gerne (und nicht gut): Da muss man nachdenken. Er schoss die Tore oft in dem Moment, in dem sie keiner erwartete.

Und während heute Torschützen selbstverliebt irgendwelche Posen erfinden und Botschaften in die Welt aussenden wollen, machte Müller immer das gleiche, wie es auch Kinder taten, bis sie Ronaldo und andere nachahmten: Er hüpfte kurz, die Arme ausgebreitet in die Höhe, dann drehte er sich um, zurück zum Anstosskreis, möglichst schnell, bereit für das nächste Tor.

Und immer wieder: Der Kaiser, Franz Beckenbauer, stolzierte mit dem Ball von hinten über den Rasen, suchte Müller, Müller suchte Beckenbauer, sie fanden sich immer, und am Ende lag der Ball im Tor, irgendwie. Sie waren so verschieden, aber sie verstanden sich auf dem Spielfeld blind. Das Spiel machte ihn glücklich, auch mit kleineren Bällen: Bestritt Bayern irgendwo ein Auswärtsspiel, so rief er vorher stets das Hotel an und fragte, ob es einen Tischtennistisch habe. Und dann spielte er abends nach dem Essen stundenlang, oft bis nach Mitternacht und ihn der Trainer ins Bett schickte.

Für Tschik Cajkovski war er einst
«Kleines, dickes Müller».

Aufgewachsen ist Müller in Nördlingen, einem Dorf nördlich von München, sein Vater war Taglöhner und starb früh, seine Mutter Hausfrau, vier Kinder lebten in einer engen Wohnung, Gerd Müller machte eine Weberlehre – und er schoss schon damals viele Tore, einmal 16 in einem einzigen Spiel, einmal 180 von 204 Toren für den TSV Nördlingen. 1964, Müller war 18, holten ihn die Bayern, damals noch zweitklassig, zahlten 5000 DM an die Mutter und Müller einen Monatslohn von 150 DM, um noch etwas mehr Geld zu verdienen, arbeitete er halbtags als Möbelpacker.

«Kleines, dickes Müller», sagte Trainer Tschik Cajkovski über ihn und spottete, man habe einen Ringer verpflichtet, eine Zeitung schrieb von einem «Ballettänzer mit Betonoberschenkel», aber mit Müller begann für die Bayern der Aufstieg zu einem der besten Klubs Europas. Franz Beckenbauer sagte später einmal: «Ohne Gerd Müller würden wir uns noch in der alten Holzhütte aus den Sechzigerjahren am Trainingsplatz an der Säbener Strasse umziehen. Ohne seine Tore stünde der FC Bayern nicht da, wo er ist.»

Er brauchte Hilfe, dringend:
Die Bayern
gaben ihm wieder eine Aufgabe.

Bayern verdankt Müller sehr viel, als der FC Barcelona ihn einmal verpflichten wollte, sagte er: «Mog i ned. Ich kann doch ned mehr als ein Schnitzel essen.» Es kam aber der Tag, als seine Tore, die immer so selbstverständlich waren, immer mehr ausblieben, Trainer Pal Csernai ihn vertrieb und Müller nach Florida flüchtete, zu den Fort Lauderdale Strikers. 

Er schoss dort wieder viele Tore, sass aber auch oft an der Bar seines Steakhauses, er trank viel, zu viel, und er trank vor allem weiter, als er 1985 wieder nach München zurückkam. Er machte es still, er verlor fast alles, seine Ehe schien zu zerbrechen, und einmal erschien er schwankend auf dem Trainingsgelände der Bayern, er war aufgedunsen, sein Blick leer und glasig, und es gab dicke Schlagzeilen in der Boulevardpresse. Alle wussten jetzt, wie tief er gefallen war. Er brauchte Hilfe, dringend. Er war krank, sein Leben in Gefahr.

Gerd Müller und Uli Hoeness

Franz Beckenbauer und vor allem Uli Hoeness nahmen sich ihm an. Hoeness organisierte den Aufenthalt in der Klinik, übernahm die Kosten, weil Müller fast kein Geld mehr hatte, sorgte für die Reha und besuchte ihn ständig. Und vor allem: Die Bayern gaben ihm eine Aufgabe, «wir mussten ihn sozial wieder einbinden», sagt Hoeness, «sonst wäre er wieder rückfällig geworden». Erst bei den Junioren, dann bei den Amateuren von Bayern wurde Müller Trainer, er konnte das Leben und den Fussball, der für ihn alles war, wieder geniessen, ohne je wieder ein Glas Alkohol zu trinken.

Ein Mensch ist noch da,
erinnert sich
aber an nichts mehr.

Bis sein Leben wieder eine Wende nahm. Müller erkrankte an Alzheimer. Viele in München wussten, wie schlecht es um ihn stand, aber es wurde lange nicht öffentlich. 2015 aber, als die Gerüchte immer mehr wurden und es sich nicht mehr verheimlichen liess, verbreitete der FC Bayern bei seinem 70. Geburtstag ein Communiqué und bat um einen rücksichtsvollen Umgang, Müller liege in einem Pflegeheim.

Die heimtückische Krankheit wurde aber immer schlimmer, als Uli Hoeness ihn vor einigen Monaten ein letztes Mal besuchte, erkannte ihn Müller nicht mehr, er nahm nichts mehr wahr. Es war furchtbar für seine Familie, ein Mensch ist noch da, erinnert sich aber an nichts mehr, nimmt nichts mehr wahr. Er lag als Palliativpatient auf der Intensivstation, öffnete seine Augen kaum mehr, schlief nur noch. «Der Gerd schläft seinem Ende entgegen», sagte seine Frau Uschi kürzlich einem Reporter der «Bild»-Zeitung.

In der Nacht zum Sonntag starb Gerd Müller, 75-jährig, zuletzt wog er, der Mann mit den strammen Oberschenkeln und dem breiten Hintern, noch 40 Kilogramm. Er schlief friedlich ein.




Dieser Nachruf erschien auf tagesanzeiger.ch und am Montag, 16. August auch in verschiedenen Zeitungen.
 
Ein weiterer Blog über Gerd Müller, zu seinem Rekord mit den meisten Toren in einer Bundesliga-Saison, finden Sie hier.

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