Die Tasche im Lift




Früher: Viele Karten und noch kein Navi im Auto.

Ich stieg in ein Taxi, es war Fussball-WM und der Sommer 2002 in Japan, ich wollte von Oita, einer Hafenstadt im Süden auf der Vulkaninsel Kyushu, zurück nach Tokio fliegen, und ich sagte meinem Taxichauffeur «Airport», ich wiederholte es nochmals: «Airport», er sagte «hai, hai», er nickte und lächelte freundlich. Der Mann mit Mütze trug weisse Handschuhe und auch ein weisses Hemd, auch die Sitze im Taxi waren mit einem weissen Tuch bedeckt, er fuhr los, ich sah aus dem Fenster und dachte, es ist doch ein ganz anderer Weg in eine andere Richtung, als jene, aus der ich vier Tage zuvor zum Hotel gefahren bin.

«Airport» sagte ich nochmals, er lächelte, «hai, hai»; dass dies «ja, ja» heisst, wusste ich inzwischen, Japaner sagen immer «hai, hai», oft auch drei- viermal nacheinander, und sie sagen es auch, wenn sie eigentlich «nein» meinen. 

Er fuhr also unbeirrt weiter, ich zweifelte immer mehr, und eine Viertelstunde später hielt er an, es hatte viele und viele grosse Schiffe, es war der Hafen, und er stieg aus, öffnete mit seinen weissen Handschuhen die Tür, und er wollte nicht begreifen, dass sein Gast nicht auch ausstieg und einfach sitzen blieb. «Airport, Airport», sagte ich, wohl ziemlich gereizt, jetzt etwas lauter und vielleicht etwas weniger freundlich, denn in einer Stunde war mein Flug, er «hai, hai», und da nahm ich aus meiner Tasche mein Flugticket heraus, zeigte es ihm, und jetzt nickte er wieder, sagte «hai, hai», er lächelte noch freundlicher, und ich lächelte auch, wir verstanden uns ohne uns zu verstehen, diesmal.

Der Taxifahrer in Japan, 2002.

Das ist eine Geschichte in den vielen Jahren, die im Kopf bleibt, wenn man zurückblickt, wie in der letzten Kolumne mit den Texten, die eine Weltreise machten (hier). Diesmal Geschichten nicht in den Stadien und mit Spielern und Trainern, sondern unterwegs, irgendwo.

Wie 1990, Italia Novanta, die magischen italienischen Nächte, die Nannini/Bennato besangen. Ich war in Neapel. Kollegen hatten in den Tagen zuvor ihre Geschichten erzählt, von Einbrüchen in Hotelzimmern, während sie unten beim Frühstück sassen, von Fenstern, die bei ihren Mietwagen auf irgendeinem Parkplatz eingeschlagen wurden, Computern, die im Restaurant nicht mehr da waren, dabei waren sie nur eine Minute auf der Toilette gewesen, und einer wurde auf offener Strasse von einem auf einer Vespa beraubt, weg, einfach weg war seine umgehängte Tasche, er sah sie davon rasen auf der Vespa.

Und ich stand an diesem Abend, eben angekommen aus Mailand, vor der Lifttür in meinem Hotel unten am Hafen in Neapel, ich schwitzte, es war heiss, ich hatte meine Tasche in den Lift gestellt, wollte jetzt auch noch den schweren Koffer reinstellen – und weg war er, der Lift mit meiner Tasche drin, mit dem Computer, meinem Geld, den Ausweisen, auch jenem, der für meine Arbeit als Journalist lebenswichtig war und ohne den ich in kein Stadion mehr gekommen wäre. 

Ich sah auf der Anzeige, dass der Lift hoch fährt, in der fünften Etage hielt er, lange, sehr lange, unendlich lang, ich verzweifelte, dachte sehr vieles und unangenehmes, dann fuhr der Lift (und die Tasche?) weiter nach oben, achte Etage, wieder hielt er, wieder lange, sehr lange, unendlich lang, dann neunte Etage. Da schien er still zu stehen, für immer, dachte ich.
Der Lift im Hotel in Neapel, 1990.

Neapel, diese verrückte und chaotische Stadt, von der viele warnen und alle sie doch lieben, ich hatte ein Interview mit dem Schriftsteller Luciano De Crescenzo gelesen, der sagte, so wie der Fussball mit einem Ausländer (er meinte Maradona) seine Probleme bewältigt habe, müsse die Stadt einen Ausländer als Bürgermeister holen, um die dramatische Lage zu verbessern, einen Deutschen und drei Schweizer als Stadträte.

Ich befürchtete in diesem Moment unten am Meerufer in Neapel das Schlimmste, kein Computer, kein Ausweis, vor allem diesen Ausweis nicht mehr, kein Geld, Handys gab es damals noch keine.

Minuten vergingen, es schien mir wie eine Stunde – da öffnete sich die Lifttür, einer trat heraus, er lächelte: «È la sua borsa?» fragte er. Alles war noch drin.

«Nein, nein, gehen Sie ja nicht, das ist gefährlich,
 da hat es wilde Leute, die schlagen Sie»

Früher, da gab es keine Navis im Auto, und mit dem Handy konnte man telefonieren und später auch kurze Nachrichten verschicken, aber damit Routen ansehen und fremde Orte in fremden Ländern finden? Man hatte Karten aus Karton und Papier, für jedes Land oder gar jede Region eine, Autos waren einmal vollgestopft mit verschiedenen Karten, war man alleine im Auto, gab es nur eines: Anhalten und suchen.

Es war bei der Fussball-EM 2000, die in Belgien und Holland ausgetragen wurde. Ich musste nach Liège, ich fragte im Hotel in Brüssel nach dem Weg, in einer knappen Stunde sei ich dort, hörte ich, die Autobahn E40, dann E42, und dann sähe ich gleich das Stadion. «Liège» oder «Luik» (flämmisch) oder «Lüttich» (deutsch) las ich oft auf Schildern, das Stadion sah ich nie, es war wohl die falsche Ausfahrt, dafür viele kleine Ortschaften, enge Strassen, Gasthöfe, die fast alle geschlossen hatten, es war Pfingstmontag, ich fragte bei Tankstellen («Oh, Sie sind ganz falsch»), ich schaute auf meiner Karte, es war schwierig zu eruieren, wo ich überhaupt war. Irgendwann schöpfte ich Hoffnung, ich sah «Euro»-Schilder, ich sah die blaue Farbe, und «blau» bedeutete, dass dort die reservierten Parkplätze sein mussten, es konnte nicht mehr weit sein.

Ich kam auf einen kleinen Hügel, sah eine alte Frau am Strassenrand, sie ging am Stock, ich hielt an, fragte sie: «Pardon, wo ist das Stadion?» Sie schwieg lange, sagte dann, sie sprach ein französisch gefärbtes Deutsch: «Das grosse Stadion, wollen Sie wirklich dorthin?» – «Ja, ich muss dorthin.» Jetzt schaute sie mich sehr ernst und besorgt an: «Nein, nein, gehen Sie ja nicht, das ist gefährlich, da hat es wilde Leute, die schlagen Sie, die sind schlimm.» – «Aber ich muss, ich bin Journalist.»

Jetzt schaute sie noch ernsthafter und mit Unverständnis: «Journalist, wollen Sie über diese Wilden schreiben?»

«Nein, über Fussball.»

Ich fand das Stadion von Lüttich, nach fast vier Stunden, zuletzt half mir ein junger Belgier auf dem Velo, er sagte, folgen sie mir, ich also hinter ihm her über Kieswege, mal links, dann wieder scharf rechts, er radelte in einem Tempo, als wäre er Eddy Merckx, irgendwann sah ich von Weitem die Leuchtmasten des Stadions. Er sagte: «Bon match.»

Der knorrige Typ mit Hut, und wie er
 
Salvatore Dali zitierte

Oder noch diese Geschichte, in Berlin 2006, Fussball-WM in Deutschland, von einem «Sommermärchen» sprach man damals, weil es vier Wochen lang tropischer Sommer war und Franz Beckenbauer im Hubschrauber von Stadion zu Stadion schwebte und überall begeistert empfangen wurde und umjubelt, als Kaiser und Lichtgestalt und Glücksmaskottchen eines Landes, das alles möglich machte – als Spieler Weltmeister, als Trainer Weltmeister und jetzt die Weltmeisterschaft nach Deutschland geholt –, einige sagten, selbst zum Petrus hätte er damals einen direkten Draht gehabt.

Der lauschige Garten im Berliner Literaturhaus, 2006.

Ich war an einem Abend unter schattigen Bäumen in einem lauschigen Garten des Literaturhauses nahe des Ku’damms, ein knorriger Typ mit Hut stand plötzlich da, begann eine Geschichte zu erzählen, am Ende zitierte er Salvatore Dali, er sagte: «Eines Tages wird man zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch grössere Illusion ist als die Welt des Traumes.»

Er ahnte nicht, dass vierzehn Jahre später das ZDF zum 75. Geburtstag einen Film über Franz Beckenbauer ausstrahlen wird («Mensch Beckenbauer! Schau’n mer mal») und die Autoren darin sagen: «Heute haften auch Korruption und Gier an seinem Namen.»






Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!