Texte machten damals eine Weltreise
(Karikatur Felix Schaad) |
Er war Weltmeister. Europameister. Er hat viel gewonnen. Er war ein Name, nicht so klangvoll wie andere, er stand nicht für die Kunst im Fussball, nicht für die Tore, nicht für den Glamour, er war nicht der strahlende Held, den alle anhimmeln. Er passte eigentlich gar nicht in die Welt der Sieger, obschon auch er fast immer ein Sieger war.
Und jetzt stand er in diesem Schreibwarenladen in München an der Ohlmüllerstrasse 9 nahe der Isar, ein kleiner Laden mit ganz viel drin, Schreibzeug eben, Schulsachen, jede Ecke war vollgestopft, auch Zeitungen und Magazine und Kaugummis gab es, und die Lottoscheine konnte man abgeben. «Guten Tag», sagte er damals hinter dem Ladentisch, es war noch früh am Morgen, freundlich und zurückhaltend, keine laute Stimme. «Was kann ich für Sie tun?»
Ich wollte ihn einfach besuchen, an diesem Ort, in diesem Laden, seinem Laden, den er einst von seiner Tante übernommen hatte. Hans-Georg Schwarzenbeck, es war ein Frühlingsmorgen Ende der Neunzigerjahre, er war immer noch ein grosser, kantiger Mann, sah fit aus, so wie er es war früher als Fussballer. Der deutsche Lyriker Wolf Wondratscheck hatte ihm mal ein Gedicht gewidmet, es stand darin: «Merkwürdig, dass so einer, eckig wie eine leer gegessene Pralinéschachtel, etwas trifft, das rund ist.»
Hans-Georg Schwarzenbeck in seinem Schreibwarenladen: München, 1998. |
Schwarzenbeck war, bei Bayern München und in der deutschen Nationalmannschaft, der Mann fürs Grobe, der Aufräumer, der «Putzer des Kaisers», sagten sie, der Hund für Franz Beckenbauer, der beissen musste, wenn ein Gegner in seiner Nähe war, «Standbein, Schussbein, nichts für Geniesser, kein Jubel in den Fussgelenken» (Wondratschek), er war der «Katsche». Hinter seinem Ladentisch sagte er damals, und er wirkte zufrieden mit seinem Leben: «Ich habe immer gewusst, was ich kann und einmal will.» Als ihn Beckenbauer einmal anrief und zu einem Fest einladen wollte, antwortete er: «Woasst, Franz, i kann ned weg, ’s ist Schulanfang, do muass i in mei’m Laden sein.»
Es sind solche Geschichten und Erlebnisse, die bleiben, nach 44 Jahren in der Welt des Sports, der grossen, aber eben auch der kleinen, mit vielen Begegnungen irgendwann, zufällig, an vielen Orten aus verschiedenen beruflichen Gründen.
Der Kellner als Torhüter – und das Bild
nach dem Spiel zusammen mit Zico
Wie diese. Anfang Juli 1982, in einem Dorf ganz in der Nähe von Barcelona, es war Fussball-WM, eine der schönsten von insgesamt zehn besuchten. «Ist er es?», fragten wir uns, doch wir waren sicher, er muss es sein, gestern Abend war er doch unser Kellner in einem Restaurant ganz in der Nähe gewesen, er hatte noch gesagt, morgen sei sein grosser Tag, doch mehr hatte er nicht erzählen wollen.
Und jetzt: Da stand er im Tor, schwarze Hose, roter Pullover – und jene, die auf ihn zurannten und schossen und tricksten und zauberten, hiessen Zico, Socrates, Eder oder Falcao; schöner und besser spielte vielleicht nie eine brasilianische Mannschaft als bei diesem Turnier. Sie machte, zur Ablenkung, ein Testspiel gegen eine regionale Auswahl mit unserem Kellner als Torhüter, einige Dutzend brasilianische Radioreporter berichteten live, brüllten «Goooooool» und «Ziiiiii-coooooo» in ihre Mikrofone, sehr oft schrien sie es, das Spiel endete 11:1, oder vielleicht waren es auch 15 Tore. Unser Kellner im Tor war der glücklichste Mensch: Seine Freundin schoss ein Bild, er und Zico, Arm in Arm, es hängt wohl im Restaurant, wenn es dieses im Hinterland von Barcelona noch gibt.
Oder das, es sagt auch viel aus über frühere Zeiten und wie wir arbeiteten. Es war 1978, die WM in Argentinien, Uli Hoeness, der wenige Monate zuvor seine aktive Karriere wegen Knieleiden früh hatte beenden müssen, schrieb Kolumnen für den «Tages-Anzeiger». Er hatte für sich und seine Frau eine Wohnung mitten in Buenos Aires gemietet, in der Avenida Maipu. Ich fuhr jeweils mit dem Taxi dorthin, Hoeness übergab mir sein handgeschriebenes Manuskript, ich tippte seine Kolumne auf meiner Hermes Baby ab, fuhr ins Pressezentrum, ein Fernkopierer übermittelte den Text in die Redaktion nach Zürich, dort wurde der Text von einem Setzer erneut abgeschrieben, ein Lochstreifen entstand, dann Bleisatz. Texte machten damals eine Weltreise.
Begegnungen in 44 Jahren mit u.a. Jürgen Klinsmann, Uli Hoeness und Daniel Jeandupeux (im Uhrzeigesinn). |
Oder das: «Via Datamail in die Schweiz» hiess es, wir waren in Mexiko, die WM 1986, und das Bild bleibt im Kopf. Norbert Eschmann, einst ein Schweizer Nationalspieler, dann Journalist bei der welschen Zeitung «24 heures», sass im Pressezentrum, er schwitzte, er fluchte, obwohl er ein sehr feiner Mensch war, er warf vor Wut fast seinen klobigen Computer auf den Boden und mit ihm das mit einem Koppler verbundene Telefon. Seit zwei Stunden wollte er seinen Text in die Schweiz übermitteln, es gelang nicht. Er hatte eine Anleitung neben sich, sie hatten uns solche Rezepte von zu Hause aus mitgegeben: «Please type your name», stand geschrieben, dann brauchte es ein Passwort, auf dem Schirm erschien «password, thank you, your last login was…», dann «enter» drücken, «redakti» schreiben (alles klein, unbedingt), wieder «enter». Einiges mehr folgte, gegen 15 weitere Schritte, keiner konnte ausgelassen werden. Und dann eine Nummer wählen, auch sie war notiert, je nach Stadt in Mexiko war es eine andere: 518 03 87. Besetzt. Sehr oft war es besetzt. Wieder von vorn. Alles. Eschmann verzweifelte, im Medienzentrum, auf den Tribünen bei den Spielen, bei 40 Grad manchmal, es war eine heisse WM, wir alle verzweifelten immer wieder.
Auch solches war möglich: Daniel Jeandupeux, damals Trainer des FC Zürich, ich kannte ihn schon lange, er wurde zu einem guten Freund, weckte mich am einem frühen Morgen telefonisch, es war Anfang der Achtzigerjahre, ein Handy gab es noch nicht. Er brauche dringend einen, der sich ins Tor stelle, Heinz Lüdi, sein Verteidiger, Nationalspieler, war lange verletzt gewesen, er müsse mit ihm Schusstraining machen. Und so stand ich hinter dem alten Letzigrund im Schneematsch, es war ein kalter Wintertag, Jeandupeux legte die Bälle hin, Lüdi schoss, ich bückte mich ständig und holte die Bälle aus dem Netz.
Andere Zeiten. Auch das. 1998, WM in Frankreich. Die deutsche Nationalmannschaft hatte ihr Quartier in den Bergen oberhalb von Nizza. Eines abends fuhren wir, zwei deutsche Journalisten und ich, in unserem Mietwagen dorthin, Jürgen Klinsmann wartete schon beim Hoteleingang. Auf der Rückbank fuhr er mit, ins Restaurant Le Manoir in einem kleinen Dörfchen mit schönem Meerblick, an den Wänden hingen Bilder von bekannten Malern, auch von Claude Monet, draussen auf dem Platz spielten sie Pétanque, ein lauer Sommerabend. Wir blieben lange, bis nach Mitternacht, und irgendwann fragte Klinsmann: «Hat heute Abend eigentlich nicht England gespielt?» Wir lachten alle, hatten vergessen, dass eigentlich eine Weltmeisterschaft war.
Roberto Baggio mit Tochter Valentina: Los Angeles, Juli 1994. |
Bilder von Verlierern erzählen oft die schöneren Geschichten. Wie dieses in der Rose Bowl von Pasadena, zwei Stunden nach dem WM-Final 1994, Roberto Baggio stand neben dem Bus der italienischen Mannschaft, seine dreijährige Tochter Valentina auf dem Arm. Sie trug eine Mickey-Mouse-Mütze und spielte mit den zum Zopf zusammengebundenen Haaren ihres Vaters, sie war vergnügt, die Haare bald nur noch gelockt und nicht mehr gebunden. Sein Blick: tieftraurig und leer. Baggio hatte zuvor versagt, den Ball beim Elfmeterschiessen in die Sonne über Los Angeles geschossen. Für Valentina war dies unwichtig.
Oder wie oft haben wir gelacht mit Gilbert Gress. Wie damals in seiner Wohnung in St-Blaise, morgens um zwei war es schon, eine schwüle Sommernacht, und plötzlich stand er auf, in kurzen Hosen, er schwitzte und versuchte sich zu bücken, hielt seine Arme vor seinen Körper, kam mit ihnen kaum auf Kniehöhe. «Der Heinz», er meinte Hermann, «der macht vor jedem Training solche Übungen, verrenkt sich minutenlang, das ist doch», und Gress sagte dieses Wort gern: «unmöööööglich.» Stretching, das Wort kannte Trainer Gress nicht, «nie bin ich mit meinen Armen weiter runtergekommen», er zeigte es in dieser Nacht nochmals, «und ich war doch als Spieler auch Meister mit Strassburg und Marseille».
Statt «Diego, Diego» riefen sie im
Stadion von Neapel «Luciano, Luciano»
Es waren viele Orte in diesen 44 Jahren, Seoul, Olympische Sommerspiele 1988 und der Anruf morgens um vier. Ben Johnson, über den wir am Tag zuvor noch bewundernd geschrieben hatten nach seinem Sprint in der Weltrekordzeit von 9,79 Sekunden, sei gedopt und wie ein Verbrecher abgeführt worden; Neapel und wie sie im Stadio San Paolo für einmal nicht «Diego, Diego» riefen, sondern «Luciano, Luciano» und dem Schriftsteller Luciano De Crescenzo huldigten, der so wunderbare Geschichten über die Stadt und auch Maradona schrieb und sich auf die Medienplätze setzte; Mailand, auch Maradona, in einem Hotel, die Lifttür öffnete sich, und er trat herein, allein, und ich war so verdutzt, dass ich ihn nicht einmal begrüsste – oder Bad Bertrich.Köbi Kuhn, ein Jahr nach der WM: Bad Bertrich, 2007. |
Ein kleines Dorf in der Eifel im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz in einem Seitental der Mosel, vorher nie davon gehört, aber nie fühlte ich mich anderswo bei einem grossen Anlass so wohl. Zu Gast bei Freunden, es stimmte. Ein Jahr nach der WM 2006 waren wir mit Köbi Kuhn nochmals dorthin gefahren, ins Hotel, in dem die Schweizer Fussballer logiert hatten. Im grossen Kurpark spielte das Salonorchester Hungarica, wie damals jeden Abend, die blauen Kostüme trugen sie immer noch. Kuhn bat, als die drei Feierabend machen wollten: «Geben Sie bitte eine Zugabe», und sie spielten für ihn einen Csardas, Kuhn applaudierte als einziger Gast – und wie schön wäre es gewesen, es hätte ein Jahr zuvor eine Zugabe gegeben, in diesem stümperhaften Elfmeterschiessen, das die Schweizer in Köln gegen die Ukraine verloren hatten.
Es war das Ende der schönen Träume.
The End.
(Nach 232 Kolumnen, erst unter dem Namen «Espresso», dann «Im Auge», erschien dieser Text als Abschiedskolumne
im «Tages-Anzeiger» vom 7. Oktober 2020.)
im «Tages-Anzeiger» vom 7. Oktober 2020.)
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