Musikalische Lesung, 30. November in Küsnacht

Fotos Dieter Seeger

Ich sah kürzlich auf einem deutschen Fernsehsender einen Talk mit Herbert Grönemeyer. Er erzählte, wie zu Beginn seiner Karriere in Berlin einmal nur 2 Leute in einem Saal für 1000 sassen und in München nur 10. «Ich war relativ erfolglos», sagte er, seine Plattenfirma kündigte dann den Vertrag, sein nächstes Album, «Bochum», machte ihn aber zum Star.

Ich hatte im Kopf, dass mir Pippo Pollina einmal erzählte, wie er mit seinem klapprigen roten Opel auf Tournee war, er war noch kaum bekannt, kurz zuvor noch als Strassenmusiker unterwegs gewesen. Und dann betrat er in Grenoble das Lokal, und in der ersten Reihe sass ein Mann, «je suis le spectateur», sagte dieser, er lachte, Pippo lachte, und Pippo spielte zwei Stunden für seinen einzigen Zuhörer, der spectateur applaudierte nach jedem Lied.

Ich träumte in der letzten Woche und bin dann schweissgebadet aufgewacht. Der Lautsprecher funktionierte nicht, ich verhaspelte mich ständig beim Lesen, die Technik versagte, und die Fotos, die auf die Leinwand sollten, sah man nicht oder die falschen; die wenigen Leute im Raum, alles Freunde, standen bald kopfschüttelnd auf und gingen hinaus, und ich hatte, später im Traum, beschlossen, die Lesung abzusagen, schämte mich.

Wettstein und Langenegger

Die musikalische Lesung fand als Matinee statt, an diesem Sonntagvormittag, dem 1. Advent, wieder in den wunderbaren Lokalitäten der Immobilienwerkstatt in Küsnacht. Lukas Langenegger sang und spielte mit Gitarre und Mundharmonika Dylan, Cohen, Lennon, Cash, Matter, Züri West, Springsteen, Velvet Underground, ich las meine Geschichten und Gedichte, mein Schwiegersohn, Ravin Marday, trug zwei Gedichte vor.

70 kamen, alle Stühle waren besetzt, auch die Technik funktionierte, Michi Blaser, der Gastgeber von der Immobilienwerkstatt, schnitt den wunderbaren Salami in dünne Scheiben, neben ihm hinter der Bar Dimitri, Herby, Susanne, Elisabeth, viele halfen mit. Um elf hatten wir begonnen, um fünf gingen die Letzten, immer noch mit Musik und dem Rotweinglas auf dem Bistrotisch, nicht Lukas sang aber jetzt, sondern Adriano Celentano auf Spotify, sein wunderbares «Il ragazzo della Via Gluck», und ich dachte, nur 80 Meter entfernt von hier bin ich aufgewachsen, war mein Elternhaus.

Niemand hatte gebuht, niemand kopfschüttelnd den Raum verlassen, die Fotos zu den Texten und Liedern erschienen auf der Leinwand, auch dank Tochter Melanie. Alles war nur ein böser Albtraum gewesen, es war schön. Lukas setzte sich gar ans Klavier, auf dem seit Jahren niemand mehr spielte, das aber immer noch bestens gestimmt war, sang Lennons «Imagine», das auch heute so passt: «Stell dir vor, es gäbe keine Gier, keinen Hunger, keinen Krieg». Und die musikalische Lesung endete auch diesmal wieder mit Dylans «Blowin’ in the Wind», viele summten mit, die Antwort, mein Freund, weiss ganz allein der Wind.

Lukas Langenegger mit Lennons «Imagine» am Klavier

Draussen, am letzten Tag im November, war es grau, neblig, ein kalter Wind über Küsnacht und dem See. Wäre schön, er brächte Antworten zu diesen vielen Fragen, die uns beschäftigen.

Und nachher, am Abend, eine Leere, als hätte man etwas verloren, sei nichts mehr da, vom Winde verweht, und es ist so, wie Pippo Pollina in seinem Lied «Dopo il concerto» singt: «Nach dem Konzert/wenn der letzte Ton verklungen/und schliesslich die letzte Reihe leer ist/ schnürt ein eigenartiger Schmerz/wie Traurigkeit mir die Kehle zu.»

Eine schöne Traurigkeit.

Sechs Videos zum Anlass