Das Wunderkind
Blog-Nr. 431
Mit 22 Jahren ein Bestseller: Nelio Biedermann und «Lázár»
Bevor ich ihn lese, lese ich ganz vieles über ihn. In Besprechungen seines neuen Buches, in Interviews, Porträts, überall, er ist das grosse Thema. Höre das Tagesgespräch im Schweizer Radio, Diskussionen im Fernsehen. Und immer mit mächtigen Schlagzeilen.
Das neue Wunderkind der Literatur. Der neue Thomas Mann. Die grosse Entdeckung. Shootingstar. Ein Held der Literatur. Das Schreibwunder. Vieles mehr noch. Die Nummer 5 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste.
Nelio Biedermann, «Lázár», sein Buch. Das Ereignis.
Und schon der Anfang, er wird überall zitiert, als Beispiel für den Sound des Buches. «Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann entdeckt, den er über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird.»
Ich habe viele andere Sätze von Nelio Biedermann im Buch angestrichen, Sätze, die mich einfach erstaunten. Wie dieser: «Dann verbrachte er die langen Tage im weitläufigen Garten und dachte darüber nach, dass die Vergänglichkeit das grösste Unglück war, ohne sie aber eine Welt unerträglich wäre.»
Und die Art, wie er schreibt, in kurzen Kapiteln, mit manchmal kurzen Sätzen, dann wieder mit ganz langen und einmal, Kapitel 13, Seite 77, ging ein einziger Satz ohne Punkt über zwei Seiten, es dürften, ich schaffte es nicht, sie zu zählen, über 500 Wörter sein. Ein Satz, ich habe lange Sätze gerne, aber da wurde es mir schwindlig. Und es soll gleich auch gesagt sein: Ich habe beim Lesen etwas Mühe gehabt, die Figuren einzuordnen, es kommen viele vor, ständig wechseln auch die Perspektiven, es ist nicht immer einfach, den Überblick zu behalten.
Aber genug der kritischen Anmerkungen.
Dieser Mann, dieser junge Mann, dieser sehr junge Mann, kann schreiben. Und wie! Mit erst 22. Es ist kaum zu glauben, es ist verblüffend.
Und man, und offenbar geht es auch anderen so, habe ich gelesen, fragt sich, was hat man einst selber schreiberisch mit 22 Jahren gemacht? Bücher haben sowieso nur ganz wenige geschrieben, Françoise Sagan soll ihr «Bonjour Tristesse» mit 18 vollbracht haben, ich las es vielleicht mit 20, war damals sehr angetan – aber mit 22 selber so geschrieben? Matchberichte über den FC Küsnacht in der «Zürichsee-Zeitung», über Premieren des Zirkus Knie, Auftritte der Clowns Dimitri oder Charlie Rivel, der Liedermacher Reinhard Mey oder Mani Matter, Reportagen wie einen Sonntag auf der Ufenau - ja, solches.
Nelio Biedermann, wohnhaft in Thalwil am Zürichsee, studiert in Zürich Germanistik und Filmwissenschaften. Er hatte an einem Kurzgeschichtenwettbewerb der Kantonsschule Enge teilgenommen und den ersten Preis gewonnen; mit 17 schrieb er «Verwischte Welt», über Themen der Jugend, mit 20 seinen ersten Roman, «Anton will bleiben», über einen sterbenden Mann, seine Maturaarbeit hatte den Titel: «Über das schreiben und mich.»
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Titel in «Schweiz am Wochenende» |
Er habe, als er 16 war, zwar viel gelesen, aber nie etwas geschrieben, sagte er im «Tages-Anzeiger». Aber er habe, während er in der Pandemie in Quarantäne sass, viel Zeit gehabt und lange etwas gesucht, worin er gut sei; mit Sport wurde er nicht wirklich glücklich. «Erst beim Schreiben habe ich gemerkt: Das kann ich wirklich.»
Und jetzt also «Lázár», das Buch wird bald in 20 Sprachen übersetzt, beim berühmten Rowohlt-Verlag in Berlin ist es erschienen, andere Verlage hatten sich auch um ihn bemüht. Als er seinen Vertrag unterschrieb, die Summe ist geheim, man spricht von einer sechsstelligen Zahl, war er in Zürich in einen Käseladen gegangen, um zur Feier eine Flasche Champagner zu kaufen. Man wollte ihm diese nicht geben, er sei noch zu jung, hörte er.
Schon bei der Maturaarbeit hatte er damals die Geschichte zu «Lázár» im Kopf, begann zu schreiben, bis zu 100 Seiten, warf aber alles wieder weg. Dann war er vor zwei Jahren in Portugal in den Ferien, hatte plötzlich den ersten Satz im Kopf, eben jenen von weiter oben, und wusste: Ja, jetzt kann ich das Buch schreiben.
Das Buch: Biedermann schreibt von einer ungarischen Adelsfamilie, die von den Wirren des 20. Jahrhunderts, von der Kaiserzeit bis zum zweiten Weltkrieg und dem Sowjetimperium, mitgerissen, während des ungarischen Volksaufstandes 1956 enteignet und zur Flucht in die Schweiz gezwungen wurde. Mit vielen privaten Schicksalen, es ist eine Familiensaga, mit viel Fiktion, aber es ist auch inspiriert von Biedermanns Familiengeschichte, eine Geschichte mit menschlichen Alltagssorgen, Abgründen, Lügen, Intrigen, Gewalt, Depressionen, Alkoholismus, Suiziden, Sex. Nelios Grossmutter hat ihm oft von der Flucht in die Schweiz erzählt, für Recherchen war er zu seinem Grossonkel in Budapest gereist.
Man denkt beim Lesen manchmal: Passt diese sehr junge Stimme zu diesem alten Stoff? Aber es ist eben auch so: Wie diese Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts leben auch wir heute wieder in Zeiten mit vielen Unsicherheiten, Ängsten und Umbrüchen. Plötzlich gibt es wieder Krieg, wie damals.
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Nelio Biedermann lebt in Thalwil am Zürichsee |
Und jetzt? Es steht auf dem Buchumschlag, und der Satz von Daniel Kehlmann wird immer wieder zitiert. Soll man, darf man schon schreiben, einem anderen Grossen? Kehlmann sagt: «Ein wirklich grosser Schriftsteller betritt die Bühne. Im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.»
Biedermann ist bereits am Schreiben eines nächsten Buches. Er macht es wie immer von Hand. Die Geschichte soll sich mehr mit der Gegenwart als mit der Vergangenheit befassen. Mehr verrät er nicht. Auch seine Eltern werden das Buch erst lesen dürfen, wenn es fertig ist. Wie bei «Lázár». Über die vielen, vielleicht zu vielen – geschrieben von einem, der erst 22 ist und auch diese Seiten des Lebens noch nicht alle kennen kann – erotischen Sätze im Buch sagt er: «Meine Eltern fanden die Sexszenen unterhaltsam.»
Er war erleichtert.
Nelio Biedermann. - «Lázár». - Rowohltverlag, Berlin. - 336 Seiten.
Lesungen: 24.10 Buchhandlung am Hottingerplatz, Zürich. - 6.11. WOLF Buchhandlung, Küsnacht. - 11.11. Buchhandlung Benuziger, Einsiedeln. 26.11. Buchhandlung Schreiber, Olten. (Die meisten sind bereits ausverkauft).
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