No Surrender! Nacht der Hoffnung

Blog-Nr. 412




Es ist heiss, brütendschwitzenddurstigheiss in diesem Kessel im Mailänder Quartier San Siro, dem vielleicht schönsten von allen alten Stadien, mit den steilen Tribünen und hoch zum Himmel ragenden vier Türmen. Bruce Springsteen sagte einmal, es sei für ihn einer der besten Orte, und er stehe gerne auf dieser Bühne, sie würden hier in Italien musikalisch so viel verstehen.

60 000 sind gekommen an diesem Montagabend, dem letzten Tag im Juni, und nochmals 60 000 werden es am Donnerstag im San Siro sein. In Manchester hatte die «Land of Hope und Dreams»-Tournee begonnen, mit zehn Stationen in Europa, und in Mailand endet sie, und dann soll er, sagt der selbstverliebte mächtigste Mann, in sein Land zurückkehren und, schrieb ER auf seiner Plattform: «Wir werden sehen, wie es ihm dann geht.» Die Dörrpflaume eines Rockstars nannte ER ihn, und er solle den Mund halten, in Grossbuchstaben geschrieben.

Das tut Bruce auch in Mailand nicht. Er sagt es auch hier wie zuvor in Manchester, Lille, Marseille, Liverpool, Berlin, Prag, Frankfurt, San Sebastian und Gelsenkirchen: «In meiner Heimat ist das Amerika, das ich liebe, das Amerika, über das ich geschrieben habe, das seit 250 Jahren ein Leuchtfeuer der Hoffnung und der Freiheit ist, derzeit in den Händen einer korrupten, inkompetenten und verräterischen Regierung.» 

Das Publikum soll seine Stimme erheben und die Freiheit erklingen lassen.

Seine Botschaft und das Lied: «Land of Hope und Dreams» (Video YouTube/fw)

Das Konzert beginnt mit «No surrender», nie aufgeben, als drittes das Lied zur Tour, «Land of Hope and Dreams», 1999 erstmals gespielt, er verwendet eine Metapher mit einem Zug, um den Glauben an eine bessere Zukunft auszudrücken, es heisst darin:

Dieser Zug trägt Heilige und Sünder
Dieser Zug trägt Verlierer und Gewinner
Dieser Zug trägt Huren und Spieler
Dieser Zug trägt verlorene Seelen

Wahrlich, ich sage: Dieser Zug – 
Träume werden nicht durchkreuzt werden.
Dieser Zug – Glaube wird belohnt werden
Dieser Zug – höre die Stahlräder singen
Dieser Zug – Glocken der Freiheit erklingen

Kommt auf diesen Zug!
Menschen macht euch bereit!
Ihr braucht keine Fahrkarte
Alles, was ihr tun müsst, ist einsteigen
In diesen Zug einsteigen.

Wir steigen ein mit ihm, der so verletzt ist über das, was in seinem Land gerade passiert, er ist entrüstet, sagt das, bleibt aber anständig mit seinen Worten, nur den Namen von ihm nennt er nie, diese Ehre tut er ihm nicht an.

Nach einer Blinddarm-Operation wieder zurück: Steven van Zandt

Springsteen mit seiner grossartigen E-Street-Band, sie rocken in dieser wunderbaren Sommernacht – und wie! Wir schwitzen, sie schwitzen, und wir sitzen bald nicht mehr und hören seine Lieder, 28 sind es bis zum Ende. 

Es sind bei Springsteen immer kurze Geschichten, die er zum grossen Teil schon vor 40 und mehr Jahren geschrieben hat, mit den Themen zur Liebe, zur Hoffnung, zu gelebten und ersehnten und verlorenen Träumen, von Melancholie und dunklen Momenten; es sind poetische Lieder und Protestsongs, manchmal wie eine Predigt, von einem Mann, der die Abgründe und auch die Narben seines Landes kennt und trotzdem daran glaubt, dass es immer wieder einen schönen Ausweg gibt.

Auch jetzt, in diesen düsteren und gefährlichen Zeiten. Die meisten der auch in Mailand gespielten Lieder sind von gestern, aber heute brandaktuell.

Nach einer Stunde schickt Autor und Kabarettist Bänz Friedli, im Stadion im Sektor Y01, eine Nachricht: «Es ist eine Messe. Bruce for President und fuck the bastard. Das ist die Energie, die die Welt braucht. Das Einende, nicht das Spaltende. One, Two, Three, Four…»

Am Donnerstag nochmals im San Siro

Ich sitze weit weg, hoch oben im dritten Rang, Filo 4, Post 37, Bruce und seine Band wohl 100 Meter entfernt, ohne die Screens nicht zu sehen, aber grossartig diese Sicht, das ganze fiebernde Stadion vor Augen, 60 000, die fast alle stehen. 

Neben mir eine junge Mailänderin mit ihrer Familie, zwei Kinder, erstmals bei einem grossen Konzert, sie strahlen; rechts von mir ein älterer Mann, ein Schotte, mit seiner Frau aus Edinburgh angereist, mit dem Auto, und wir alle strecken Arme und Fäuste in die Luft, umarmen uns mit strahlenden Gesichtern, und Bruce gibt einem das Gefühl, als singe und spiele seine Band nur für uns, als seien wir in seinem Wohnzimmer.

Es ist schlicht grossartig, Daniel Rohr, der Direktor des Theater Rigiblick, schreibt auch eine Nachricht: «Was für ein Mann, was für ein Mann. Ich verneige mich zutiefst, ich könnte heulen vor Glück, ihn hier zu erleben.»

Es ist fast 23 Uhr im San Siro, immer noch 31 Grad, Bruce, «Bruuuuuce», wie sie immer wieder schreien, hat sein Gilet inzwischen ausgezogen, steht mit dunklen Jeans, weissem Hemd, schwarzer Krawatte und zurückgerollten Ärmeln schweissgetränkt auf der Bühne. 

Wir alle hätten gerne noch mehr Lieder gehört, und im Kopf ist ein Konzert im Bernabeéu in Madrid, dem alten Bernabeéu, auch ein ehrwürdiges Stadion, und damals, dreizehn Jahre sind es her, war er morgens nach zwei Uhr noch am spielen, nach über vier Stunden lang, auch das war eine schwül-heisse Nacht.

Leidenschaft mit der Gitarre

Sein letztes Lied in Mailand ist eines von Bob Dylan, den er so verehrt, er sagt, es sei eines der schönsten Friedenslieder, das je geschrieben wurde. Dylan tat es 1964, ein Protestsong für die zahllosen Verwirrten, Beschuldigten, Missbrauchten, Ausgebrannten und noch Schlimmeres, deren Wunden nicht geheilt werden können, «Chimes of Freedom», die Glocken als Symbol für die Freiheit. 

Springsteen singt es bei jedem seiner Europakonzerte am Ende, als seine letzte Botschaft.

Bänz Friedli schreibt nochmals: «So stark sah ich ihn noch nie. Verrückt, dass der alte Mann sich an die Spitze der Auflehnung stellen muss, aber er macht es grandios. Es kommt nun das Beste der Guten zum Vorschein, nicht nur das Schlechte der Bösen. No Surrender!»

Die Nähe zum Publikum

Nie aufgeben, Bruce gibt uns diese Hoffnung und macht süchtig. 

Aber zum Glück gibt es seit Freitag eine neue Möglichkeit. Springsteen hat sieben bisher unveröffentlichte Alben herausgegeben, total 83 Songs, will man sie alle hintereinander auf Spotify hören, braucht man 5:15 Stunden. Es sind mehrheitlich Lieder, die er alleine im eigenen Tonstudio aufgenommen hat, neue alte Musik von ihm, teilweise auf sehr intime Art und in nachdenklicher Stimmung, die meisten ohne seine Band. 

Es hat viele grossartige Songs darunter, mein Favorit momentan: «Where You Going, Where You From», einfach wunderschön, oder, auch: «Sunday Love». Und: ganz viele, wie: «Maybe I Don't Know You».

Auch das kommt bald, im Kino ein Film über ihn, aus der Zeit, als sein Album «Nebraska» entstand, Anfangs der achtziger Jahre, «Deliver Me From Nowhere» heisst er, Jeremy Allen White spielt Springsteen.

Und Netflix soll bald eine Dokumentation über sein Leben herausgeben.

Schweissgebadet nach fast drei Stunden

Aber zurück zu diesem Montagabend. Lag es an Mailand, am Geist des San Siro, lag es an dieser wunderbaren Sommernacht, war es wegen diesen schlimmen Zeiten, wegen dieser Gegenwart, die Angst macht – und es eben einen braucht, der darüber spricht, aber doch Hoffnung bringen kann und sagt, dass wir die Träume nicht verlieren dürfen. Besser fand ich Bruce Springsteen nie, und es war mein bisher 15. Konzert mit der E Street Band.

Ein Song war gar nicht vorgesehen, er spielte ihn nach «My City of Ruins» und vor «Because the Night».

«I’m On Fire.» Springsteen war in Mailand Feuer und Flamme. B
rütendschwitzenddurstigheiss, nie war dieses Gefühl schöner.

Auf der vorgesehenen Setlist war «I'm On Fire» nicht drauf.
 Als Song 16 dann gesungen. So wurden es 28 Lieder.


PS: Es war fast um Mitternacht noch 31 Grad  heiss und im vollgepferchten Tram, das mich und meine Kinder zurück in die Stadt bringen sollte, wohl gegen 60 Grad  und die Luft sehr stickig. Wir stiegen bald aus, nach Atem ringend, suchten drei Leihvelos und fuhren so  beschwingt durch das nächtliche Mailand. «Dancing in the Dark», das hatte er auch gesungen.

Mit Velos hinter dem Tram zurück in die Stadt
Fotos: Melanie Marday-Wettstein, Dimitri Wettstein, Fredy Wettstein


Eine nächste musikalische  Lesung am 21. August
im Garten  bei «Culture Time» in Winterthur 


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