Händedruck

Blog-Nr. 416




Weshalb kommt mir jetzt, plötzlich, nur weil ich einen Baum sehe und mich dieser Baum so ablenkt und berührt, das in den Sinn, diese wunderbare (Kinder-)Geschichte von Peter Bichsel, vom alten Mann, der das Leben langweilig findet und der beginnt, dem Tisch Teppich zu sagen und dem Stuhl Wecker und der Zeitung Bett und dem Wecker Fotoapparat und anderem anders?

Ein Baum am See, er scheint grüner als sonst, kräftiger, vielleicht weil es bis vor kurzem erneut regnete und es dunkel wurde, als wäre es Nacht mitten am Tag. Aber warum Bichsels Geschichte?

Und später wird es etwas heller, bleibt es doch Tag, und ganz schwach, durch die Wolken, leuchtet etwas gelblich, die Sonne, es gibt sie noch – aber warum berührt sie mich so, nehme ich sie ganz kräftig wahr, obwohl sie kaum scheint?

Sie lag da, ein lieber Mensch, regungslos in diesem Bett in der Intensivstation, mit einem Tubus im Mund und in der Nase und ganz vielen anderen Schläuchen und Überwachungsmonitoren links und rechts und Zahlen, die aufleuchten, in verschiedenen Farben und manchmal ein Ton, sie hat langsam geatmet, aber zu wenig, sagte der nette Pfleger, der vor sechs Jahren aus Kroatien in die Schweiz gekommen war und seit sechs Jahren nun hier in der Intensivstation im Hirslanden arbeitet, und man spürt, wie sehr ihn diese Arbeit, die gewiss nicht einfach ist, erfüllt; und er sagte, ich solle nur ihre Hand nehmen und mit ihr reden, dann würde sie vielleicht schneller wieder selber genügend atmen, damit man diese Intubation beenden kann nach dieser schweren und heiklen zweistündigen Operation, und ich sah sie an und mir kamen Tränen, dieser Anblick tat so weh, ihre Hilflosigkeit, und ich begann zu reden mit ihr, sagte, dass ich da bin und alles gut verlaufen sei und sie halt jetzt viel Geduld brauche, aber alles komme gut, und draussen sei es mehr Oktober als Juli, gar nicht schön, und dann – dann spürte ich, wie sie mit ihrer linken Hand meine rechte auch leicht drückte, nur leicht, aber ich spürte es, und ihre Augenlider gingen nach oben, nur ganz kurz, dann aber waren die Augen gleich wieder geschlossen, ich drückte ihre Hand noch etwas fester, und sie hat auch gedrückt, ich spürte es, sie mit weiter geschlossenen Augen, sonst ohne Regung lag sie da …

… ein Händedruck kann nicht schöner sein.

Und das Glas, das im Odeon auf dem Bartisch steht, eine Frau sitzt davor, sie hat noch nicht getrunken, sitzt einfach vor ihrem Glas, es ist, denke ich, ein Aperol Spritz, das Getränke, das man trinkt bei sommerlichen Gefühlen, die man derzeit nur herbeisehnen kann – aber warum denke ich, ist dieses orange noch oranger als sonst?

Und draussen heult eine Sirene, wie sie immer wieder heulen in einer Stadt, normalerweise nimmt man es kurz zu Kenntnis oder auch gar nicht, ein Krankenwagen, er rast auf der Strasse in eine Richtung, die man eigentlich nicht darf und über Rotlicht hinweg – aber warum denkt man jetzt viel länger nach, obschon man weiss, dass es keinen Zusammenhang gibt?

Am anderen Tag, sie lag jetzt wieder in ihrem Zimmer, sie sah schon wieder viel schöner aus, sagte sie, sie könne sich nicht erinnern, dass ich abends zuvor an ihrem Bett war, als sie aus der Narkose erwachte.

Zürich von oben auf dem Riesenrad

Die Welt ist so friedlich, da oben auf dem Riesenrad, das einige Tage auf dem Bellevue steht. Ich liebe diese riesigen Räder, sie geben ein klein wenig das Gefühl von Freiheit; ganz oben hielt die Gondel und alles schien ganz weit weg, die Leute, die durch die Strassen hetzen, der Lärm einer Stadt, die ganze Hektik, dieser Europa erpressende Dealmaker auf (s)einem Golfplatz in Schottland sowieso – aber warum meine ich, es sei noch stiller, als es still ist, hier oben, dem Himmel näher als der Erde, so scheint es, warum?

Ein Freund geht bald nach Paris, ich beneide ihn. Und ich lese im «Tages-Anzeiger» eine Geschichte von Oliver Meiler, dessen Geschichten ich so gerne lese, und es geht um Paris und das Quartier Montmartre, wo die Radfahrer der Tour de France auf ihrer letzten Etappe zum ersten Mal auf den Kopfsteinpflastersteinen durchfahren, und Oliver schreibt, wie dieser romantische Ort längst zu einem Disneyland und klassischen Opfer des Overtourism geworden ist – warum denke ich nun, eigentlich sollte man gar nicht mehr irgendwohin weit weg reisen, das Schöne ist doch so nah, hier, im immer-noch-Paradies-Schweiz?

Montmartre in Paris, nicht mehr wie einst

Vorher ein Buch gelesen, «Es ist sein Leben» von Silvio Blatter, acht Geschichten von Wendepunkten und Erfahrungen, von Aufbruch und Abschied. Ich habe von Silvio lange nichts mehr gehört, hatte ihn einst gebeten, Kolumnen für den «Tages-Anzeiger» zu schreiben. Sein neues Buch beginnt mit einem Zitat: «Wenn die Welt gerecht wäre, hätte sich das herumgesprochen» von Karin Tuil. Musste googeln, sie ist eine französische Schriftstellerin mit tunesischen Wurzeln.

Das Iphone liegt auf dem Tisch neben Zeitungen, wieder im Odeon, es tut gut, allein unter Leuten zu sein.

Aber ständig der Blick darauf.

Warum noch kein Anruf? Was bedeutet das? 044 387 .. .., die Nummer ist im Kopf, vom letzten Mal. Zwei Stunden sind doch schon vergangen. Und der Arzt hat versprochen, er rufe gleich an, nachher.

Der liebe Mensch musste nochmals operiert werden, nochmals Narkose, zum dritten Mal innert sieben Tagen, nochmals ein heikler Eingriff, nochmals diese Angst, nochmals werden diese vielen Schläuche nachher überall zum Körper führen. Fragen. Bangen. Hoffen.

Minuten vergehen, das Handy bleibt stumm, Minuten wie Stunden.

Dann der Anruf. Es ging gut.

Und der Baum, Bichsel, die Sonne, das Glas, die Sirene, das Riesenrad, Paris, das Buch.

Eigentlich ist man abgelenkt. Mit den Gedanken ganz woanders. Denkt man aus Sorge an einen lieben Menschen.

Und man nimmt doch alles viel mehr wahr, empfindet stärker. Und denkt, man könnte dem Baum doch auch Tisch sagen.

Oder irgendein anderes Wort. 


Eine nächste musikalische  Lesung am 21. August
im Garten  bei «Culture Time» in Winterthur 


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