«Spil no eis»

Blog Nur, 369

Eine Woche mit Stephan Eicher, Martin Suter,
 Pippo Pollina, Züri West, Axel Hacke,
Daniel Rohr und Büne Huber




Wäre es in Palermo gewesen oder in Neapel oder sonstwo im Süden Italiens, dann hätten sie noch lange weitergespielt, wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden, die Gitarre in der Hand und diese nach einem Lied der oder dem Nächsten weitergereicht, und die oder der hätte nun etwas gesungen, vielleicht improvisiert, und einer hätte sie jetzt mit der Posaune begleitet und ein anderer mit der Klarinette, es wäre eine lange und schöne und musikalische Nacht geworden.

Aber es war an diesem Sonntag nicht in einem Ristorante im Süden Italiens, es war in Zürich, da gibt es Gesetze und die meisten Lokale müssen um Mitternacht schliessen, auch wenn es dann eigentlich am schönsten wäre, beschwingt durch die Musik und den Wein, die Gespräche und die Lieder.

Pippo Pollina, der Sizilianer, der schon mehr als 30 Jahre auch ein Zürcher aus dem Seefeld ist, hatte wieder eingeladen, zu seinem Festival «La Grande Bellezza», zum ersten Mal ins Kaufleuten. Raquel Romeo mit ihrer schönen kräftigen Stimme, der charismatische Peppe Voltarelli und der 76-jährige Eugenio Bennato, Bruder von Edoardo, alle aus Italiens Süden, spielten und sangen nach der Spaghettata an einem langen Tisch, noch einige Dutzend hörten ihnen im Lokal zu, und schade war eigentlich nur, dass Martin Suter und Stephane Eicher schon vorher hatten gehen müssen.

Es wäre noch schöner gewesen, und sie hätten nochmals das melancholisch-fröhliche Lied «Spil no eis» vortragen können, wie vorher auf der Bühne im Klubsaal, Eicher mit der Gitarre, Suter, wie immer im dunklen Anzug mit Krawatte und Gilet, zwischendurch mit der Mundharmonika. Pollina sass am Klavier. Eicher und Suter wurden mit dem jährlichen Award bei Grande Bellezza ausgezeichnet, mehr als 600 im Saal waren begeistert.

Und ein Satz blieb von diesem Abend, Martin Suter sagte ihn im Gespräch, das er mit seinem Freund Eicher führte. Sie sagen selber, sie würden sich manchmal wie ein Ehepaar fühlen, und so sassen sie in den Sofasesseln auf der Bühne, sehr vertraut, und Suter sagte also irgendwann: «Je älter man wird, desto weniger fragt man nach dem Sinn des Lebens.

Ein schöner Sinn des Lebens können solche Abende sein. Mit Musik und Worten.

Einer von mehreren in dieser Woche. Und von jedem blieb etwas, was das Leben so schön machen kann: Musik, die verbindet, Sätze, die jemand schrieb oder vorlas oder sagte, mit Sängern und Dichtern – und mit Büchern.

Züri West, jetzt auch in zwei dicken Büchern

Und dieser Text hätte auch so beginnen können, an diesem Donnerstagabend. Zwei Wochen zuvor war Zürich märchenhaft eingeschneit gewesen, jetzt war es einer dieser grau-nassen-tristen Tage, und er passte irgendwie zum Anlass in der wunderbaren Buchhandlung «Never Stop Reading» in der Altstadt von Zürich.

Es ging um Züri West, die Berner Kultband, es ging vor allem um Kuno Lauener, den Gründer und Sänger und Frontmann, der an multipler Sklerose erkrankt ist, weshalb man Züri West nie mehr auf einer Bühne wird geniessen können.

Aber wenigstens in zwei Büchern, fast 4,5 Kilogramm schwer, das eine mit 1200 Fotos aus der 40-jährigen Geschichte der Band und kleinen Texten zu jedem Album, das andere mit sämtlichen Liedern, die Kuno geschrieben hat, und – eine bisher kaum bekannte Seite von ihm - seinen Skizzen, Zeichnungen und Collagen, viele grossartig, einige hingekritzelt auf irgendwelchen Servietten oder Rechnungsbelegen, andere sehr detailliert und kunstvoll.

«I schänke dr mit Härz» - und Kunos Zeichnung dazu

Es ging also um diese zwei Trouvaillen für alle Fans von Züri West, und es wurde über die Entstehung des Buches, über die Bilder und Geschichten zu Liedtexten und aus dem Leben der Band diskutiert, über Vergänglichkeit und Gegenwart. Thomas Wyss, der die Buchhandlung zusammen mit Urs Schilliger leitet, moderierte, Küse Fehlmann, der Gitarrist, der die Band zusammen mit Kuno gegründet hatte, seine Freundin und Fotografin Annette Boutellier, von der viele der 1200 Aufnahmen von und vor und nach Konzerten, wenn die Lichter erloschen sind, stammen, und This Wachter, der vor einem Jahr den starken Podcast «8424 Züri West» produzierte, redeten miteinander.

Es wurde ein Abend wie eine Zeitreise, 40 Jahre Züri West, am 26.5.1984 hatten sie im Berner Jugend- und Kulturzentrum «Zaff» ihr erstes Konzert gegeben, am 15.9.2018 in einem Gewächshaus einer Gärtnerei zwischen Palmen und Pflanzen in Stäfa ihr letztes.

Ein spätsommerlicher Abend war es damals am Zürichsee gewesen, schön und lau und sternenklar auch um Mitternacht noch, Kuno wusste um seine Krankheit, die Band und Öffentlichkeit aber noch nicht, er spielte Zugabe um Zugabe, als wollte er nicht, dass der Abend endete – er hatte gewusst oder zumindest geahnt, dass es sein letzter Auftritt mit der Band sein würde.

Und jetzt war es an diesem Donnerstag in Zürich nass und grau, aber überall erhellten weihnachtliche Lichter die Stadt, und irgendwie passte es eben, eine gewisse Traurigkeit und trotzdem Hoffnung, eine Stimmung, wie auch im letzten Album, das die Band vor einem Jahr noch herausgab, «Loch dür Zyt», mit Texten von Kuno, die nachdenklich, wehmütig, aber immer auch witzig und doch zuversichtlich sind.

Und, auch hier die Zeitreise, der Song «Loch dür Zyt» war das erste Lied, das Kuno, der Geschichtenerzähler, für Züri West schrieb, im Frühling 1983 war es, «Züri West» hiess der Titel damals, und jetzt hat er es leicht neu getextet und musikalisch verändert, mit auch wie vor 40 Jahren diesen Zeilen:

«Mir frässen üs es Loch dür Zyt
mit üsem Tag für Tag
es Loch wo immer töiffer wird
es ewigs Uf und Ab
(...)
Ir Nacht i liege wach im Bett
irgend es Gwüsse wo mi plagt
so Mängs i mir wo ungwüss isch
u so mängi offeni Frag» 

Im Song «Winterhalde» dichtet Kuno auf diesem Album «U i louffe u i louffe/u d’Chäuti schtieut mr schier dr Schnuuf/aber chumm du nume, du Jahr, du nöis/ no grad gieben nid uf».

Hoffnung für das neue Jahr, sind die Bücher doch nicht das letzte Werk von Züri West? Kuno Lauener, 63, wurde am Wochenende der Ehrendoktor der Universität Bern verliehen, er kann sich Dr. h.c. nennen. 

Erst die Bühne - dann in der Bar der Kronenhalle
mit Picasso: Axel Hacke

Keine Musik, nur Worte, zwei Tage später, im Schauspielhaus, am Samstagabend. Oder doch mehr als nur Worte: Wenn Axel Hacke, der deutsche Autor und Kolumnist, seine Lesungen hat, dann ist es immer auch Theater, besonders an einem solchen Ort, auf der grossen Bühne eines Theaters.

Nur er, ein Stuhl, ein Bistrotisch, sein Buch in der Hand, ein Glas Wasser, aus dem er aber kaum trinkt. Wie er spricht, mit seiner schönen Sprache, er ist gebürtiger Braunschweiger, seiner Mimik, seinem Charme zwischendurch, seiner Art, die Texte zu lesen – zuhören wird zu einem Vergnügen.

Er hat schon viele hundert Lesungen gehabt, eine einmal in Berlin in einem grossen und kargen Saal, vor nur zwei Zuhörern im Publikum, einer war sein Schwiegervater. Aber er liest längst in grossen Häusern, auch Zürich ist praktisch ausverkauft, 800 sind gekommen.

Hacke liest aus seinem neuen Buch «Aua! - die Geschichte meines Körpers», es geht darum, was er alles schon erlebt hat mit seinen Körperteilen, vom Fuss, über das Knie, den Penis, Bauch, dem Herz, der Lunge, Nase, fast allem, und wegen allem war er irgendwann schon beim Arzt gewesen oder lag er auf einem Operationstisch.

Wegen Tolstoi, Lederschuhen mit glatter Sohle, in Barcelona, einer Einladung ins Literarische Quartett, mehr sei nicht verraten, sass er dann im Wartezimmer des Kniespezialisten, einer Münchner Kapazität, und er las Befunde: Älterer imponierender Schrägriss im Innenmeniskushinterhorn, mediales Kapselödem/Innenbandreizung. Aktivierte Femoropatellararthrose … Chondropathie Grad 3 femorotibial medial.

Wir hören solches (und lesen anderes aus dem Buch) und denken nicht mehr an Hackes Körper, sondern an unseren eigenen, (fast) alles haben wir – je älter wir sind, desto häufiger – auch schon erlebt, einmal gehört, erfahren, darunter gelitten und wären beinahe gestorben, vor Schmerz. Hacke sagt, er habe hypochondrische Züge, er weckt mit seinem Körper den eigenen zum Leben, er schreibt in der Einleitung: «Was wäre ich ohne ihn? Andererseits: «Was wäre er ohne mich?»

Wir lernen seinen Körper kennen, die Geschichten seines Körpers. Und schmunzeln. Und er schmunzelt auch, jetzt, wenn er liest und nicht mehr leidet. Und zuletzt, bei der Zugabe, lachen wir (und er), er liest eine seiner über 1500 Kolumnen, die er seit 1992 für das Magazin der «Süddeutschen» geschrieben hat, eine aus dem Jahr 1999, «Doktor Leibtrost». Der Doktor hatte mal vor Jahren die Telefonnummer, die jetzt Hacke hat, und frühere Patienten rufen nun an und glauben, mit dem Doktor zu telefonieren. Aber es ist Hacke.

Es ist köstlich. Musculus risorius, so heisst der Lachmuskel, oder Musculus zygomaticus major. Wir müssen zum Arzt nach diesem Abend, dringend. Aber es heisst doch: Lachen macht gesund.

Wir sind krank und kerngesund.

Daniel Rohr und sein Raketentraum

Daniel Rohr ist Rigiblick. Und Rigiblick ist Daniel Rohr. Das stimmt natürlich nicht ganz, dieses Theater an diesem wunderbaren Ort hoch oben über Zürich mit Blick über die Stadt und auf die Berge, ist auch eine Familie, ganz viele tragen dazu bei, dass fast alle Abende immer ausverkauft sind, und viele kommen immer wieder, zu ganz verschiedenen Produktionen, es ist auch ein Ort der Begegnung unter Bekannten.

So singt an diesem Abend auch sie, es ist Sonntag, und das Stück wurde diesmal gar zweimal aufgeführt, um 15 Uhr und 18 Uhr. Die Stimme von Sängerin Anna Känzig hatte vor kurzem einmal erkältet versagt, und so musste, erstmals in der 20-jährigen Geschichte des Theaters, eine Veranstaltung kurzfristig abgesagt werden und wurde nun nachgeholt. Und Känzigs Stimme ist an diesem Sonntagabend wieder wundervoll, nur schon das ein Genuss.

Aber dann Daniel Rohr. Und vielleicht ist es DAS Stück, um zu erleben, wer Daniel Rohr ist. Eine Geschichte, die er schon lange im Kopf herumgetragen hatte, «Dreamer», nach einer Geschichte des amerikanischen Autors Ray Bradbury. Sie handelt von einem armen Schrotthändler, Fiorello Bodoni heisst er, dessen Traum es ist, mit seiner Familie und seiner selbstgebastelten Rakete einmal im Leben ins Weltall zu fliegen.

Es ist eine grossartige märchenhafte Geschichte, über Träume, Wünsche, Willen, Familie, und es ist die Geschichte für Daniel Rohr, den «Düsentrieb des Kulturbetriebs», wie die NZZ einmal schrieb. Er ist alles in diesem Stück. Der Schauspieler Rohr. Der Sänger Rohr. Der Geschichtenerzähler Rohr. Der Musiker Rohr (auch mit einer Ukulele, wie das Orchester). Der Fantast Rohr. Der Träumer Rohr. Der Macher Rohr. Der Enthusiast Rohr. Und nachher auch der Gastgeber Rohr, der im Theaterbistro noch lange nach der Vorstellung an Tischen sitzt, mit Menschen redet, für die das Rigiblick auch fast ein Wohnzimmer ist.

Mona Vetsch mit Filmemacher Lüscher und Huber

Büne, mit richtigem Namen Hanspeter Huber, ist auch schon oft im Rigiblick aufgetreten, als Interpret von Bob-Dylan-Songs. Jetzt aber, es ist Montag, steht er im Mittelpunkt, geht es nur um ihn, um seine Geschichte, sein Leben. Es wurde verfilmt, zu sehen im SRF 2 am nächsten Freitag kurz nach acht, heute aber ist Premiere im Kaufleuten. Mona Vetsch redet auf der Bühne mit Huber und dem Filmemacher Matthias Lüscher, dazwischen sind längere Ausschnitte aus dem Film zu sehen.

«Kosmos Büne Huber», ein Leben voller Bilder, Menschen und Songs, heisst die Dokumentation, und es ist ein grossartiger, intimer, immer wieder berührender Einblick in seine Welt. Als Sänger, als Kopf von Patent Ochsner, als Maler - malen ist ihm noch wichtiger als singen oder texten -, als Mensch, der auch schwere Zeiten durchmachte, im Leben keinen Sinn mehr sah, nicht mehr glaubte, sich nochmals binden zu können – und dann, durch Zufall, die grosse Liebe fand. Es ist die vielleicht schönste Geschichte von vielen schönen Geschichten im 90-minütigen Film, es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Sue, seine zweite Frau, 18 Jahre jünger, erzählt sie herzergreifend.

Sie verliebte sich in Büne, nicht in den Büne, sie kannte diesen Büne gar nicht, sondern in den Menschen Büne mit dem grossen Herzen, und nach einer langen ersten Nacht und (nur) tiefen Gesprächen fuhr sie mit dem Velo nach Hause. Büne hatte sie gefragt, ob sie sich ein Leben mit ihm vorstellen könne, am anderen Morgen um Neun stand sie mit dem Kissen, das sie immer bei sich hat, vor seiner Tür und sagte: «Ich will es». Und blieb. Und das Kissen nimmt sie mit, wohin sie auch immer gehen. Auch jetzt im Zürcher Hotel an diesem Montag hat sie es dabei.

Die grosse Liebe gefunden, als er nicht mehr daran glaubte

Oder diese Geschichte. Im Film von Lüscher kommen ganz viele Orte in Bern vor, die im Leben von Huber eine wichtige Rolle spielen, und einmal fuhren sie zum Breitenrainplatz, Huber am Steuer, Lüscher filmend daneben, sie kreisten mehrmals um den Platz, es ist eine wunderbar lustige Szene, und Huber zeigte bei einem Haus nach oben, dort habe er gewohnt und in diesem kleinen Zimmer sei die «W. Nuss vo Bümpliz» am Klavier entstanden. 

Nur das Geheimnis hinter der W.Nuss, das bleibt auch im Film geheim; Huber amüsiert sich längst, was alles in den Song interpretiert wird.

Mehr vom Film darf aber nicht verraten sein, man muss ihn sehen, unbedingt, nicht nur, wer zu den Fans von Patent Ochsner gehört.

Überhaupt, wie bei der ewigen Frage Beatles oder die Stones? Züri West oder Patent Ochsner?

Es gibt für mich, auch nach dieser Woche, nur eine Antwort: Beide. Kuno, der Dichter, Büne, der Poet – und auch Eicher und Suter und Hacke und Rohr. Lieder, Texte, Bilder, Skizzen, Bücher, das Leben ist so ein wunderbares Theater. In solchen Momenten. «Spil no eis÷.  




Spontane Musik nach dem Konzert am langen Tisch
(Videos Youtube/Fredy Wettstein)

***

Nächste Auftritte von Pippo Pollina mit «Nell’attimo» in der Region Zürich: Jona (18.12), Adliswil (19.12.), Dietikon (20.12.), Erlenbach (21.12.)

Von Stephan Eicher in der Region Zürich: Tonhalle (1.6.25) mit dem Swiss Orchestra.

Neuestes Buch von Martin Suter im Gespräch mit Benjamin von Stuckrad-Barre: «Kein Grund, gleich so rumzuschreien». - Diogenes-Verlag. - Nächster Roman: «Wut und Liebe» (erscheint im April)

«40 Jahre Züri West» - 2 Buchbände, mit 1200 Bildern und allen Songtexten der Band.

Neuestes Buch von Axel Hacke: «Aua!» - die Geschichte meines Körpers». - Dumont Buchverlag.

Rigiblick: «Dreamer» und «Melody» (das Theater zum gleichnamigen Buch von Martin Suter): Momentan sind fast alle Vorstellungen bis zum April ausverkauft.

Dok-Film im SRF: «Kosmos Büne Huber» – ein Leben voller Bilder, Menschen und Songs»: Freitag, 13.12., ab 20.10 Uhr SRF zwei, anschliessend Konzert von Patent Ochsner vom Gurtenfestival 2024. - Das neue Album «Tag & Nacht» von Patent Ochsner erscheint am 31. Januar.




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