November
Blog-Nr. 366
Es ist grau (und oben, hören wir, irgendwo, blau) und kalt, kälter als es temperaturmässig kalt ist, es ist der Monat der Düsterheit und Melancholie, beides zusammen oder nur eines – es ist November, der November wird auch Trauermonat genannt, Allerseelen, Allerheiligen, am letzten Sonntag vor dem ersten Advent der Totensonntag, ein weiterer kirchlicher Gedenktag, diesmal am 24.
Es ist der Monat, den ich streichen würde, gäbe es eine Möglichkeit, das Jahr nur noch in elf Abschnitte einzuteilen. Der November ist ein nichts-Monat, kein Frühling, kein Sommer, kein Herbst, noch nicht Winter, nicht schwarz, nicht weiss, grau. Auch die Blätter der Bäume fallen ab und verwelken, ein letztes Mal trägt sie vielleicht der kühle Wind nochmals irgendwohin.
Herbert Grönemeyer hat einmal ein Lied zum November geschrieben, es beginnt so:
Ist wieder mal November
Jeder Zweig schreit, Frost macht sich breit
Wen er nicht trennt, trennt sich nie mehr
Und dieses Jahr scheint die Welt noch finsterer. Mit dem auf der einen Seite, über dem Teich, der Amerika zu seinem Amerika machen will, alle Macht bei ihm, und mit dem auf der anderen Seite, der täglich Tausende sterben lässt, damit sein grosses Land noch einige Kilometer grösser wird. Und den Nachrichten, dass (auch) bei uns die Armee in den nächsten Jahren mit doppelt so vielen Milliarden aufgerüstet werden soll.
Aber manchmal ist der November auch der Monat, der uns sentimental macht und uns an den dunklen Abenden, im Licht der Kerzen und mit sanfter Musik, zurückerinnern lässt, an früher.
Ich lese einen Text aus dem Magazin der «Zeit», eine 16-Jährige hat ihn geschrieben, sie sehne sich nach den achtziger Jahren zurück, die sie ja selber nicht erlebt hat, aber sie denkt, früher seien alle glücklich gewesen, in der Zeit, als es noch keine Smartphones gab. Als die Kinder, wenn sie sich langweilten, halt nach draussen gingen, auf der Strasse spielten. Und nicht aufwachten und alle, wie heute, als erstes noch im Bett auf das Handy schauen, wir alle tun es. Und oft Angst vor der Langeweile haben.
Ich denke, der November hat vielleicht doch etwas Gutes: Er lässt eigentlich Langeweile zu, es ist ein Monat, es ist der Monat, in dem man fühlen kann, dass das Leben auch langweilig sein darf.
Ich lese einen Text eines Kolumnisten in der «NZZ am Sonntag», er schreibt, wie er ein Buch liest, aber es geht nicht um das Buch «Das Eidechsenkind» von Vincenzo Todisco, das vor paar Jahren für den Schweizer Buchpreis nominiert worden war, sondern nur um eine Stelle darin, um den Flipperkasten in einer italienischen Bar.
Und ich erinnere mich, damals als Kind, es hatte ein Café ganz in der Nähe unseres Schulhauses, und es stand ein Flipperkasten dort, und wir rannten hin, um zu spielen, nicht aus Langeweile, aus Lust und taten es so energisch, dass immer wieder «Tilt» aufleuchtete, fertig mit dem Spiel, auf ein neues.
Und ich sitze im Theater mit dem Blick auf die Rigi, wenn es nicht November und klar am Himmel ist, und ein schönes Buch dient als Vorlage für ein wunderbares Bühnenstück, und einmal, nur in einem Nebensatz und er hat mit dem Inhalt von «Melody» von Martin Suter eigentlich gar nichts zu tun, heisst es: «Noch eine Vermisstanzeige, und vermisst wird … und sachdienliche Hinweis bitte an den nächsten Polizeiposten».
Und ich denke, heute hören wir doch solche Meldungen nicht mehr, am Radio vor den Nachrichten und am Fernsehen vor der Tagesschau, oder nur in ganz seltenen Fällen.
Wurden früher mehr Menschen manchmal vermisst? Oder merken wir heute gar nicht, wenn jemand vermisst wird?
Ach, das sind jetzt wieder nachdenkliche Gedanken. Gedanken im November. Im Monat der Melancholie, der keine Ansprüche stellt. Man verpasst nichts, draussen, es gibt keine Verlockungen. Kann Melancholie gar zelebrieren.
Im Kerzenlicht. Mit einem Glas Veritas Vinyes Velles und Gedanken an die Insel oder mit Bildern von Edward Hopper im Kopf. Oder auch mit einem wärmenden Tee.
Der November lässt Langeweile zu |
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