Die andere Insel
Blog-Nr. 358
Er ist wieder in seinem Dorf, wie schon oft, auf seiner Insel, immer wieder geht er dorthin, aber das Dorf und die Insel sollen keinen Namen haben, sie könnten eigentlich überall sein.
Denn eigentlich träumt er in diesem Moment, er sitzt in einer Bar am Meer, es hat weniger Leute als üblich, es ist die Zeit zwischen den Zeiten, nicht mehr Sommer, auch wenn der Himmel immer wieder blau ist und die Sonne wärmt, aber noch nicht Winter, es ist eigentlich die schönste Zeit; er sitzt hier und blickt aufs Meer und die Wellen, einige Fischerboote sind draussen, die Yachten weg, die Wolken gehen so schnell weg wie sie manchmal plötzlich kommen, und er träumt von einer anderen Insel. Noch nie war er dort, aber gehört und gelesen hat er schon oft über sie, und jetzt eben auch einen mehrteiligen Film gesehen, mit dieser Geschichte auf dieser Insel.
Er sitzt also in der Bar auf seiner Insel und träumt von dieser anderen Insel.
Und eigentlich ist es ein schlechtes Zeichen, irgendwo zu sein und von etwas anderem zu träumen – das kann ein Ort sein oder eine Frau oder eben eine Insel –, aber er hat jetzt kein schlechtes Gewissen, das sollte man eigentlich nie haben, denn träumen ist wichtig und braucht es, um im Leben manchmal den Weg zu finden.
Er träumt also, ein Lied, nein: DAS Lied ist im Kopf und verfolgt ihn, ein altes Lied, es begleitet ihn schon durch ein langes Leben und der, der es singt sowieso; eben wäre er 90 geworden, und er sei, schrieb kürzlich einer in der «Süddeutschen», nicht tot, er sei nur aus diesem Leben weggegangen.
Also dieser Sänger, dieses Lied, und er hat auch zwei Bücher mit auf seine Insel und an die Bar genommen, eines mit Gedichten von ihm, denn er ist beides, ein singender Dichter und dichtender Sänger. Das andere Buch ist klein, trägt lediglich den Titel dieses Dichters und Sängers, und es ist eine Geschichte oder ein kleiner Roman über ein anderes Lied von ihm.
Aber es ist mehr, es ist auch die Geschichte von einem, der in seinem Leben immer wieder auf der Suche ist, besonders, als er eines Nachts dieses Lied hörte, es aber nicht kannte, weder das Lied noch den, der es singt. Bis viel später, als er sie in einer Bar trifft, beim ersten Date mit ihr, einer älteren Frau, älter als er. Es wird das einzige Date bleiben.
Julia hiess sie, sie lagen zuerst irgendwo im kalten Sand in den Dünen am Meer, dann bei ihr zu Hause, sie drückte beim Plattenspieler, einem altmodischen Koffergerät, auf den Startknopf, und dann hörte er diese unvergleichliche Stimme und dieses Lied und fragte: «Wer ist das?»
Julia verabschiedete sich am anderen Morgen, ging weg, und er solle alles vergessen, sie, diese Nacht, dieses Bett, es werde kein Wiedersehen geben.
Das Buch ist also auch die Geschichte über die Wege der Liebe, und es steht auf Seite 131 dies: «Such nicht nach mir. Wenn wir uns geliebt haben, wirklich geliebt haben, dann lieben wir uns für immer in der Erinnerung. Wahre Liebe hinterlässt keine Spuren.»
Sie bleibt unendlich. Auch wenn sie manchmal endlich ist.
Er, so steht es im Umschlag zum Buch, Lukas heisst er, landete auf einer griechischen Insel und trifft dort die mysteriöse Dänin Meret. Doch am Ende bleiben weder Gitte, Julia noch Meret, am Ende bleibt nur ... (und es folgt der Name dieses Sängers und Dichters). Für immer.
Wenn die Sonne immer mehr zu einem Ball wird |
Jetzt wacht er auf, träumt nicht mehr auf seiner Insel, in seiner Bar, mit den sanften Wellen des Meeres als Hintergrundmusik, die Sonne, die immer mehr ein Ball ist, erst gelb, dann immer rötlicher, versinkt langsam im Meer – und eben mit diesem Buch vor sich und den Film nochmals vor Augen. Er hat ihn vorab in der Mediathek des deutschen Senders ARD gesehen, er war fasziniert von den Bildern, und er denkt, wie es wäre, auf dieser anderen Insel, sie ist nur mit der Fähre zu erreichen und immer wieder ein Fluchtort für Künstler.
Er hat Bilder gesehen, mit den Häusern, die alle weiss sind, den Tavernen am Hafen, den hölzernen Bartischen, den engen Gassen, dem glitzernden Meer im abendlichen Licht, es ist eine Serie, eine norwegisch-kanadisch-griechisch-deutsche Produktion, die ab heute im NDR spätabends gezeigt wird.
Er sitzt hier, er nimmt auf seiner Insel sein Iphone und die Kopfhörer, es ist in diesem Moment viel mehr Sommer als Winter, und nie ist eine Stimmung schöner als in diesen Abendstunden, sanft ist der Wind, die Bar heisst «Esperanza», am Ende des langen Sandstrandes «Es Trenc», der Negroni antica Formula, nicht der erste, steht auf dem Tisch – und er hofft, dass es nie, nie Winter wird.
Und er denkt an die andere Insel und träumt, wie es dort wäre, jetzt in diesem Moment, er weiss, es würde und wird ihm gefallen.
Es ist die Insel von Leonard Cohen. Und eben diesen Liedern: «So Long Marianne» in der Film-Serie, wie er in den 60-er Jahren auf Hydra Marianne Ihlen kennenlernte, über eine Liebe, die, auch wenn das Leben weitergeht und sich verändert, nie endet; und dann «Suzanne» im kleinen Buch von Klaus Modick. Beide Songs erstmals erschienen auf seinem Debütalbum «Songs of Leonard Cohen».
«Bird on the Wire» ist ein anderes, grossartiges Lied, das Cohen für Marianne auf Hydra schrieb, weil die Vögel dort immer auf Stromdrähten sassen. «Wie ein Vogel auf einem Draht/Wie ein Betrunkener in einem Mitternachts-Chor/Hab’ ich versucht, auf meine Weise frei zu sein.»
Ach, Leonard Cohen, wärst du doch wirklich nicht tot, sondern immer noch unter uns. Zum Glück gibt es Filme, wie diesen, mit wahren Geschichten zwischen Leonard und Marianne, beide unglücklich, eine zeitlang aber zusammen nur romantisch glücklich, mit auch fiktiven Elementen und vielen schönen Bildern, dazu Bücher und Texte.
Und damit die Sehnsucht nach dieser anderen Insel.
Film: NDR: Heute, 2. Oktober, ab 23.35 Uhr 4 Folgen von «So long Marianne» - Eine Leonard-Cohen-Serie. - Am 9. Oktober, ab 23.45 Uhr weitere 4 Folgen
Buch: «Leonard Cohen» von Klaus Modick. - www.kiwi-Verlag.de - Erschienen 2020.
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