Zum Tod von Totò Schillaci

 

 Blog-Nr. 355


 

 

Ein Nachruf mit Geschichten der Famiglia Galli,
damals  während Italia Novanta
 

 
Totò, mit richtigen Vornamen Salvatore, Schillaci war eine Sternschnuppe in einem wunderbaren italienischen Sommer, 1990, bei der Fussball-WM. «Un' estate italiana», wie die WM-Hymne von Edoardo Bennato und Gianna Nannini hiess, sie singen von magischen Nächten mit Torschüssen und von den Träumen, die in der Kindheit beginnen und jetzt wahr werden.

Schillaci verzauberte damals ein Land, mit seinen grossen, dunklen und feurigen Augen und seinem stechenden Blick, manchmal anklagend und gezeichnet von einem harten Leben, manchmal flehend, manchmal suchend und fragend – und eben: seine Augen und wie er leidenschaftlich jubelte nach seinen Toren, er kniete auf den Rasen und streckte seine Arme weit aus, als wolle er ganz Italien umarmen. 
 
Er war mit sechs Toren der beste Torschütze der WM und wurde auch zum besten Spieler gewählt.

«Schillacissimo» schrieb die «Gazzetta dello Sport» in den grössten Buchstaben auf der Frontseite. Wenige Wochen zuvor hatten sie ihn noch in vielen Stadien mit «Terrone», dem Schimpfwort für jene aus dem Süden, beleidigt und auch bespuckt, in Zeitungen stand geschrieben: «Was soll denn der in unserer Squadra?» 
 
Er selbst, der gelernte Velomechaniker, glaubte, die WM nur auf der Tribüne erleben zu dürfen.

An diesem Dienstag ist Schillaci in Palermo, seiner Heimatsadt, gestorben. Er wurde 59 Jahre alt und erlag, wie seine Familie mitteilte, an einer Darmkrebs-Erkrankung,  zuletzt wurde er mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. 
 
«Addio a Totò Schillaci, se ne va il bomber delle Notti Magiche», schrieb die «Gazzetta dello Sport» gestern
 
Als Nachruf vier Kapitel meiner täglichen Kolumne zur Fussball-WM 1990 in Italien, «Famiglia Galli» hiess sie, eine Familiengeschichte.
 
 
Totò Schillaci und sein feuriger Blick
 

Folge 2: «Totòs Haare» 
Montag, 11. Juni 1990


«Totò!»,

«Weshalb rufst du ihn Totò, unser Sohn heisst doch Fabio», sagt Mutter Alice.

«Ja, natürlich, scusa, aber was meinst du, mia cara, wir könnten ihm doch Totò als Übernamen geben, das wäre doch schön, findest du nicht?»

«Aber jetzt reicht es. Die Nummer 19 musste ich ihm heute morgen früh schon auf sein neues Maglia nähen, die Sonntagskleider durfte er nicht anziehen, sondern er musste unbedingt in diesem blauen Maglia und eben mit der 19 auf dem Rücken mit uns in die Messe kommen. Und du auch, Salvatore! Das sieht doch lächerlich aus, du mit diesem blauen Schal um den Hals, selbst jetzt zuhause.»

«Aber Mamma», mischt sich jetzt auch Fabio ein, «es war doch lässig gestern Abend, als ich mit dem Papà nochmals nach draussen auf die Strasse durfte. Wir sind zuerst mit einer Fahne zum Bahnhof gelaufen, ein Gelato hat er mir gekauft, und nachher hat Papà noch unser Auto aus der Garage geholt. Wir sind immer wieder durch die Hauptstrasse gefahren, mit offenen Fenstern, und ich durfte dem Papà auf den Knien sitzen und ständig hupen. Nur einen Barbiere haben wir leider so spät in der Nacht nicht mehr gefunden.»

«Barbiere?!» ruft die Mamma entsetzt und schaut ihren Mann an. «Aber du wolltest doch nicht die schönen schwarzen Locken von Fabio ... ?»

«Sicuro», antwortete der Vater, «so kurze Haare, wie sie unser Totò Schillaci trägt, das ist jetzt modern.»


Folge 19: «Träume»
Montag, 2. Juli 1990


«Fabio, komm bitte zum Frühstück» ruft die Mutter schon zum zweiten Mal. Doch aus dem Zimmer kommt keine Antwort. Deshalb nochmals: Fabiooooo!!!» Wieder bleibt es still. Und so geht die Mutter selbst in Fabios Zimmer, sieht ihren Sohn wach im Bett liegen und fragt: «Fabio, weshalb gibst du keine Antwort?»

Fabio schweigt vorerst weiter, schaut seine Mutter nur mit grossen Augen an und murmelt dann leise:
 
«Ich träume.»

«Was heisst das: ich träume? Ich habe dich schon mehrmals gerufen, dann gib mir doch bitte eine Antwort.»

«Ich will nicht», sagt jetzt Fabio lauter,  «ich träume, und ich möchte, dass ihr mich dabei nicht stört.»

Die Mutter wird langsam böse und schimpft: «Fabio, steh jetzt sofort auf und komm an den Tisch, ich sage es nicht noch einmal.»
 
«Aber Mamma», versucht Fabio einzuwenden, haben Du und Papà gestern Abend vor dem Fernseher nicht fast geweint, als unser Totò so schön gesagt hat: <Weckt mich bitte nicht auf, lasst mich weiterträumen.> Das habt ihr doch so schön gefunden und gesagt: Recht hat er, 
unser Totò.»
 
 
Folge 21: «Toto-Famiglia»
Mittwoch, 4. Juli 1990
 
 
«Kennst du die Toto-Famiglia?», fragt Salvatore Galli seine Frau, nachdem er die Zeitung beiseite gelegt hat.
 
Sie ganz stolz: «Das sind wir doch alle, ganz Italien ist doch eine Famiglia von unserem Totò.»
 
«Nein, ich meine etwas ganz anderes. Hier in der Zeitung habe ich es eben gelesen. Die wirtschaftliche Bilanz von Neapel im Monat Juni. Auch dort hofften sie, mit dem Mondiale das grosse Geschäft zu machen. Und was ist passiert? Die Hotels melden 15 Prozent weniger Gäste als im Vorjahr, die Ristortanti 30 Prozent weniger Umsatz, oder im Kino beispielsweise waren in diesem Monat gar 60 Prozent weniger Leute.»
 
«Das ist doch verständlich», wendet Alice Galli ein, «alle sassen eben vor dem Fernseher, und da geht doch niemand ins Kino. Aber sag' mir, was hat das nun alles mit der Totò-Famiglia zu tun?»
 
«Eben, nur jemand machte in Neapel auch diesmal wieder das grosse Geschäft. Die Toto-Famiglia, die Camorra eben, mit ihren illegalen <toto-nero.> Über 100 Prozent sollen sie damit mehr eingenommen haben als sonst in einem Monat, mehr als 200 Milliarden Lire sind das.»
 
Alice Galli entrüstet: «Ich habe ja immer gesagt, auch dieses Mondiale ist ein dreckiges Geschäft. Aber», sagt sie dann doch erleichtert, «zum Glück haben wir alle unseren Totò.»
 
 
 

Folge 22: «Schweigen»
Donnerstag, 5. Juli 1990


Sie sitzen alle zusammen am Tisch und schweigen. Und das Telefon läutet. Und sie schweigen weiter. Und jemand klopft an der Haustür. Und sie antworten nicht.

Der TV-Apparat ist nicht mehr da und das Fenster offen.

Es ist still, und auch von draussen hört man nichts. Keiner hupt. Keiner schreit. Niemand jubelt.

«Diese Ruhe», sagt plötzlich die Mutter.

«Schweig bitte!», antwortet der Vater.

Und sie schweigen weiter. Lange, sehr lange.

Bis Fabio es nicht mehr aushält und ganz leise sagt: «Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten früher mehr geschwiegen. Wenn es still ist kann man nämlich ganz gut träumen, und was hat doch unser Totò gesagt: ‘Bitte, lasst mich doch weiter träumen, weckt mich nicht auf.’
 
 Glaubst du nicht, Papà, wir sind vielleicht zu laut gewesen. So musste er ja aufwachen.»
 
 
«Gute Reise, campione», schrieb gestern Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Und der Cantautore Pippo Pollina beschrieb in seinem Roman «Der Andere» wie sie als junge Leute zum Haus der Schillacis liefen und der Vater von Totò an einem Fenster erschien. «Für uns in Palermo waren die Nächte noch magischer als für die Leute in Rom und Mailand.»


Die Kolumne «Famiglia Galli» erschien im Sommer 1990 während der Fussball-Weltmeisterschaft täglich im «Tages-Anzeiger».
 
 
Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

 

 




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