Er heisst Andres


Blog-Nr. 356


Stadtgeschichten (12)



Ich sitze in meinem Bistro, in dem ich fast immer sitze, meistens aber am Morgen, beim ersten Espresso oder Latte Macchiato, den Laptop oft vor mir oder eine Zeitung, noch physisch, ich halte sie in den Händen, aber das immer weniger, weil die Nachrichten aus dieser verrückten Welt nur verrückt oder depressiv machen, besonders bei diesem grauen Wetter; ich sitze also für einmal am späteren Nachmittag hier, jetzt mit einem Glas Pino Grigio und der Laptop liegt auf dem kleinen Tisch und ein Buch, das ich eben gekauft habe, auf den Knien.

Und neben mir sitzt jemand, ich habe ihn früher schon gesehen, auch in diesem Bistro, längere Haare, das gefällt mir und ich beneide ihn ein wenig darum; ungefähr gleiches Alter, denke ich. Mehrmals muss ich ihn schon gesehen, vielleicht, denke ich, ihm gar zugelächelt haben, stumm, nie mit ihm gesprochen.

Auch jetzt nicht. Oder lange nicht. Der Laptop, die Idee für einen Text, das Buch ist wichtiger. Und er macht sich seine Notizen auf einen Zettel. Das Gespräch haben wir eigentlich nur begonnen, weil sein Handy schlapp gemacht und er gefragt hatte, ob ich zufällig … Ich hatte.

Wir reden, vorerst belanglos, wie man Gespräche beginnt, ob mit Frau oder mit Mann, wir reden immer länger, zuletzt wohl fast eine Stunde lang. Ich weiss, was er im Leben so macht oder schon gemacht hat, er beschäftigt sich unter anderem, neben sehr vielem, mit Klangmusik, gilt als internationale Koryphäe auf diesem Gebiet, setzt sich für Kunst im Alltag ein; er weiss, was ich machte oder noch mache.

Wir sind uns sympathisch, denke ich. Haben jetzt sogar ein Projekt miteinander. Vielleicht einmal.

Und ich denke: Verpassen wir nicht so manches im Leben, weil wir anderen Menschen, Männern oder (eher) Frauen, vielleicht immer wieder lieb zu lächeln, weil wir denken, der/die ist doch sympathisch, wir aber nicht reden miteinander, weil es vielleicht die Gelegenheit nicht ergibt oder wir zu scheu sind, zu beschäftigt mit anderem oder den Grund nicht finden, weshalb wir reden sollten?

Er könnte doch ganz banal sein.

Und als wir uns im Bistro, es ist jetzt ziemlich voll und laut, es ist Apéro-Zeit, verabschieden, nehme ich das Buch, das ich nachmittags gekauft habe. «Aua!» heisst es, von Axel Hacke, ein schönes Buch (wie ich vorher schon überall lesen konnte, zuletzt in der «Zeit») über den Körper und dessen eigene Geschichte, und Hacke beschreibt wunderbare Einsichten in seinen eigenen, sehr intim teilweise. Klug, tröstend für uns alle, wir können so mitfühlen, und wie meist bei ihm auch heiter, einmal beschreibt er, wie er sich bei einer Einladung ins «Literarische Quartett», er bekam sie am Telefon, als er in Barcelona auf der Strasse war, eine Knieverletzung zuzog.



Ich beginne zu lesen, höre an diesem Abend gar nicht mehr auf damit, und auf Seite 35 ist von Hacke zu lesen, wie er einmal bei einer Lesung einen alten, wirklich alten guten Bekannten trifft und ihm einfach sein Name nicht einfallen will und sich in seinem Kopf alles ausschliesslich um diese dringenden Frage dreht: Wie heisst der Mann? Er hat nicht die leiseste Idee.

Und ich denke, es ist jetzt dunkel draussen und regnet wieder, in den Bergen ist es Winter im September: Hoffentlich weiss ich das nächste Mal seinen Namen noch, wenn ich ihn im Bistro oder auf der Strasse – er spaziere oft, sagte er, durchs Quartier oder dem See entlang, weil er täglich 12 000 Schritte machen wolle - wieder sehe und nicht nur lieb zu lächle, sondern mit ihm spreche.

Andres heisst er.


«Aua. Die Geschichte meines Körpers.» Von Axel Hacke. - DuMont-Verlag, Köln. - 218 Seiten.

Am Samstag, 7. Dezember, 20 Uhr liest Axel Hacke im Schauspielhaus Zürich. 


Frühere Stadtgeschichten

 

Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!