Verloren

Blog-Nr. 344


Stadtgeschichten (12)





Wo ist es nur? Es war doch noch da, im Hosensack, auf der Vespa ist das etwas ungeschickt, ich weiss. Aber jetzt?

Nicht (mehr?) im Hosensack, nicht in der Tasche vorne auf der Vespa (hätte ja sein können), nicht zu Hause, wohin ich zurückgekehrt bin, und auch nirgends auf der Seestrasse, die ich nochmals abfuhr, sofern man es überhaupt hätte sehen können, es ist ein kurzer Weg zur Badi.

Wo? Völlig durcheinander bin ich, genervt, irgendwie nackt.

Panik. Ohne Handy. Wie hilflos wir sind, wie verloren, abgetrennt von allem, kein Kontakt mehr zu niemandem, und für alle sind wir niemand mehr. Keine andere Telefonnummer im Kopf, früher, da wussten wir doch zehn, zwanzig Nummern, alle auswendig. Jetzt sind wir abhängig von diesem kleinen Ding. Ihm ausgeliefert.

Aber eine Idee, vielleicht ist es die Rettung. Es gibt diese Funktion «Wo ist?», gesucht zu Hause auf dem Laptop in den Clouds, und tatsächlich, es ist registriert, mein Handy, sogar abgebildet – aber, woooo ist es?

Die Antwort leuchtet auf. Beim Bellevue, am Ende des Sechseläutenplatzes, so wird es angezeigt, die Uhrzeit dazu, vor fünf Minuten. Bellevue, waru m dort?

Ich fuhr bis zur Badi  Kusen in Küsnacht, nicht weiter. Und wenig später, die Meldung kommt jetzt per Mail, ich habe zuvor auf dem Laptop «Verloren» gedrückt: 13.36 Uhr, Rämistrasse. Mit einem anderen Handy rufe ich die eigene Nummer an: Niemand nimmt ab, klar, mein Handy ist ja auch auf stumm gestellt. Und etwas später wieder eine Meldung, jetzt ist der Standort Giesshübelstrasse 32, dann Bahnhofstrasse (shoppt er/sie irgendwo? Zugriff auf mein Konto?), später: Schöneichtunnel. Und dann 14:43 Uhr: In der Nähe von Wallisellen auf der A51.



Es ist weg. In fremden Händen. Immerhin: Jemand muss es haben, hat er, warum denke ich, es muss ein ER sein? Hat jemand (m/w/d) es gefunden und ist auf der Flucht damit, das Handy bald über der Grenze, in nochmals fremden Händen und bald auch Ländern?

Aber sicher: Es ist weg. Für immer. Bald wird Bern aufleuchten oder Basel, dann Paris, dann vielleicht Elfenbeinküste.

Wollen Sie noch etwas abwarten? fragt der Mann bei Swisscom. Nein, ich habe resigniert, ich brauche ein neues Gerät, muss doch wieder verbunden sein mit der Welt, sonst bin ich verloren. Werde ich, vielleicht, gar vermisst. Wenigstens per Mail am Laptop kann ich es einigen nahen Menschen mitteilen, aber sollten diese das Mail nicht lesen, was denken die nun: Ist auch Fredy verschwunden, weg ohne sich abzumelden?

Es dauert, bis ein neues Handy mit allem neu geladen und installiert ist, zum Glück kann man das dank dem Tresor in den Wolken, aber es dauert fast zwei Stunden.

Und dann? Plötzlich ist alles wieder da, auch fünf Meldungen auf der Voicemail. Eine fremde Nummer. Wer sucht mich dringend?

Ich höre eine Stimme, sie tönt lieb, fast zu lieb: Er, Latif heisse er, er sei Taxifahrer und habe mein Handy bei sich, es sei auf der Seestrasse in Küsnacht gelegen, mitten auf der Strasse, ein Auto habe es vor ihm noch halb überfahren, das Glas sei zersplittert, die Hülle kaputt, aber sonst, es leuchte immer noch, meine Nummer sei drauf gewesen – ich Dummkopf hatte bei «Verloren» meine eigene Nummer angegeben, 079 414 40 ..  Statt einer von von jemandem Bekannten, der oder die mir dann hätte sagen können, mein Handy sei gefunden worden (wobei: wie hätte er/sie das tun können?)

Er, der Latif, hatte also meine Nummer gesehen, diese gewählt, aber es war ja diese auf meinem Handy, das er nun in seiner Hand hielt.

Ich muss wirklich verzweifelt gewesen sein.

Doch jetzt, ich stehe im Shop der Swisscom, ist mein neues Handy installiert, mit der gleichen Nummer wie vorher – und nun kann ich eben die Voicemail-Nachrichten abhören und ich sehe seine Nummer.

Ich rufe also Latif mit dem neuen Handy zurück, er tönt noch netter als auf dem Band und fast noch mehr erleichtert als ich es nun bin, er wisse, was das bedeutet, das Handy zu verlieren. Er könne sich vorstellen, das sei ein Schock.

Er warte beim Bahnhof Enge, und ich könne es dort abholen. Er winkt schon von weitem, als ich mit meiner Vespa vorfahre, umarmt mich beinahe, drückt das Handy in meine Hand, schaut es nochmals an, man könne es sicher reparieren, sagt er, es brauche nur ein neues Glas und eine neue Hülle. Und erzählt, er komme aus Libanon, sei aber seit über 20 Jahren in Zürich, eine so schöne Stadt sei es.

Wir reden miteinander.

Latif auf arabiasch heisst der Gütige, Freundliche, Feinfühlige. Und so war er.

Und ich habe so Unfreundliches gedacht. Böses. Schlimmes. Warum denken wir in einem solchen Moment immer so?


Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 





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