Der finale Ball

Blog-Nr. 342


Euro2024 (7)


Was bleibt? Nach drei Wochen, jetzt vor dem finalen Ball am Sonntagabend in Berlin?

Männer, Millionäre, weinen. Einer selbstverliebt auch in diesem Moment (Ronaldo), ein anderer so, dass man selber gleich mitheulen müsste, der Österreicher Christoph Baumgartner an der Brust seines verletzten und nicht-spielen-könnenden Captain Alaba. Diese muss sehr nass sein, Baumgartner schluchzend minutenlang.

Es hat nicht sein sollen. Die Österreicher wollten einmalige Geschichte schreiben, viele trauten es ihnen zu; er, Baumgartner, hatte die riesige Chance gegen die Türken, kurz vor Schluss.

Der Österreicher Baumgartner schluchzend  mit Alaba

Die deutsche Bahn, immer wieder bringt sie Geschichten. Auch diese, über Lautsprecher im nächtlichen ICE von Stuttgart nach (theoretisch) Düsseldorf, später Amsterdam, umgestiegen in Frankfurt Airport, jetzt aber im Niemandsland (links der Rhein, aber wo?): «Hier eine Meldung der Leitstelle: «Wir stehen momentan still (das haben wir bemerkt, seit bald einer halben Stunde), leider können wir ihnen im Moment nicht mehr sagen, und wir wissen nicht, weshalb wir hier stehen.» Und fünf Minuten später: «Hier wieder die Leitstelle: Jetzt wissen wir mehr. Vor uns stehen acht Güterzüge und ein Regionalzug, leider können wir diese nicht überholen.» Dann, immerhin: «Wir wünschen allen ein schönes Wochenende.»

Es ist früher Samstagmorgen, der Tag eben erwacht, Google-Maps zeigt, dass wir in der Nähe von Bonn sind, sorry: stehen, irgendwo. Und wir verweilen hier noch einige Zeit. Immerhin ist es inzwischen  sonnig draussen, hinter den Zugfenstern.

Wenn dann die Bahn kommt

Ein Satz des deutschen Bundestrainers Julian Nagelsmann, er hofft, dass die deutschen Fussballer gezeigt haben, wie es auch in weit wichtigeren Bereichen der Gesellschaft zugehen sollte: «Wenn ich dem Nachbar helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig.» Auch Nagelsmann, der Coole, der in diesem Moment wie ein staatsmännischer   Bundespräsident spricht, hat bei der letzten Medienkonferenz wässrige Augen.

Und der englische Coach Gareth Southgate sagt: «Wir wollen alle geliebt werden, oder?». Wenige Tage zuvor war er noch von den eigenen erbosten Fans mit Bier beworfen worden, Jetzt steht er mit seinem Team im Final.

Sie jubeln. Wir nicht. Sie wissen aber, dass wir offenbar jubeln können, verzögert. Nebenan, im Restaurant Iroquois im Zürcher Seefeld, sind die Gäste live dabei; wir, im Totò, sehen erst, wie Breel Embolo auf das ungarische Tor losstürmt.

Er trifft zum 3:1, wir wissen es, weil sie drüben jubeln, wir sehen es, 30 Sekunden später.

Das letzte Spiel. Sicher von Toni Kroos, dem Mann der hunderttausend Pässe, er spielt noch einen Allerletzten, kann kaum mehr laufen, hinkt wegen Krämpfen, es ist ein Freistoss, er führt zu nichts; Thomas Müller, der Mann, der hunderttausend meist amüsanten, oft gescheiten Worte, und Manuel Neuer, der ewige Mann im Tor, stehen jetzt, nach dem Ausscheiden der Deutschen, im Stuttgarter Neckarstadion mit traurigen Blicken in seiner Nähe – zum letzten Mal gemeinsam. Abschiede sind fast immer bitter.

Luka Modric, der Kroate, mit dem stets melancholischen Gesicht, beisst in sein Leibchen, vor Nervosität, er mag ausgewechselt draussen kaum hinsehen in diesen letzten Minuten gegen Italien – und, es passiert, die Italiener schiessen noch das 1:1, auch Modric scheidet aus, hört wohl im Nationalteam auf, mit 39 und nach 178 Länderspielen.

Die Zerrissenheit des Luka Modric

Oder doch nicht? Er wünsche sich, ewig auf dem Platz stehen zu können, sagt er. Auch Neuer denkt so. Kroos hat seinen allerletzten Pass gespielt, Müller wenigstens im Nationalteam.

Und Yann Sommer, der für seine Konkurrenten ewige Torhüter Nummer 1 der Schweiz? Gregor Kobel, der gerne an seiner Stelle sein möchte, erholt sich am Montag nach dem bitteren Abschied vom Turnier in der Badi Kusen in Küsnacht, er kommt im Sommer manchmal hierher, weil er im Seefeld aufgewachsen ist.

Kommt er das nächste Mal als neue Nummer 1?

Und Xherdan Shaqiri? Es ist Samstagabend in Düsseldorf, eigentlich müssten jetzt die Toten Hosen  singen, «An Tagen wie diesen», es ist ein Moment wie dieser, und Shaqiri will zeigen, was für ein Ballvirtuose er ist. Er nimmt den Ball zärtlich in die Hand, küsst ihn gar (ja!), geht zur Eckfahne, bückt sich, legt ihn zärtlich auf den weissen Halbkreis, wartet, schaut, wartet, er weiss im Kopf, was er will, niemand ahnt es, innerlich schmunzelt er vielleicht, dabei müsste auch der englische Torhüter wissen, welch ein Frechdachs dieser Shaqiri ist.

Er versucht den Ball, sein liebes Spielzeug, auf eine Flugbahn zu schicken, die direkt ins Tor führt. Leider nicht ganz. Er fliegt dorthin, wo Latte und Pfosten sich treffen. Es hätte das Shaqiri-geniale 2:1 sein können. Der englische Torhüter hebt einen Finger, anerkennend. 

Shaqiri, denke ich, wusste genau, als er mit dem Ball in seinen Händen zur Eckfahne schritt, was jetzt kommen sollte.

Und jetzt, Xherdan? Er darf nicht aufhören, wegen solchen Momenten. Er muss sich ja nur fit halten, für wenige Minuten.

Die Schotten. Auch in Madrid, mitten in der Stadt in einer Sportbar nahe der Gran Via, in schottisch-blau gekleidet natürlich, sie sind bald sehr still, reden nicht mehr über Fussball, sondern über Musik, 0:3 steht es gegen die Deutschen im Eröffnungsspiel, am Ende 1:5, es wurde aber an diesem Freitagabend viel Bier ausgeschenkt, sehr viel. «No Scotland, no Party», ist ihre Hymne. Die Nacht in der Cerveceria Deportiva Bar ist  lang.

Schotten in der Bar von Madrid

Ein Abend in der Immobilienwerkstatt in Küsnacht, ein Büro, das auch eine Bar ist, in halbfamiliärem Rahmen, mit Michi am Grill,  Caprese-Salat und wunderbarem Weissen aus San Gimignano. Ein Deutscher ist mit seiner Frau gekommen, Deutschland spielt, und nach ungefähr 15 Minuten fragt die Frau: Wer spielt heute eigentlich? EM-schauen heisst auch: Es schauen Menschen, die sonst nie Fussball schauen. Einer ruft seine Mutter im Altersheim an, sie bittet ihn, später nochmals anzurufen. Weisst du, wir schauen alle Fussball.

Luis de la Fuente, der Trainer der Spanier, sagt über seinen Spieler Lamine Yamal, das sie ein Wunderkind mit der Zahnspange nennen, an diesem Samstag wird er erst 17:  Er sei vom Zauberstab Gottes berührt. Es soll so gemeint sein: Im Alter von sieben Monaten wurde Yamal bei einer Fotosession für einen Kalender vom damals ebenfalls noch sehr jungen Lionel Messi in den Armen gewogen und gebadet.

Hoffentlich kann das Wunderkind halbwegs behütet und begleitet erwachsen werden.

Der junge Messi und das Baby Yamal

Jetzt also noch ein Ball. Wir, wir sagen wieder «wir», haben gehofft, gewünscht, geträumt, fast irgendwie gerechnet damit, weil wir uns anstecken liessen von dieser euphorischen Stimmung und dem Selbstbewusstsein der Spieler, dass wir an diesem Sonntagabend im Berliner Olympiastadion dabei sind, im Final, im Final der besten Fussballer in Europa. Unvorstellbar eigentlich so etwas, aber plötzlich denkbar, diesmal, für einmal, weil so vieles stimmte, vielleicht wird es nie mehr so sein, die Chance war riesig.

Üben wir also das, was man nicht üben kann. Weil viele von uns nicht mal hinsehen können und sich in die Küche verkriechen oder auf den Balkon oder gar in den Keller, wenn einer anläuft, dieser weite, weite Weg von der Platzmitte zum Penaltypunkt, mit hunderttausend Gedanken im Kopf, das breite Tor wird immer kleiner, der Torhüter grösser – und er weiss, dass dieser  aus seiner Plastikflasche einen Schluck nimmt und vorher liest, wohin er schiessen werde, normalerweise, es steht auf der Flasche geschrieben, dive left. Das tut Akanji meistens, er schiesst dortin.

Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst. Sang einmal Juliane Werding

In Gedanken sind WIR in Berlin, an diesem Sonntagabend. Beim finalen Ball, der so zärtlich wäre wie nie zuvor.

Juliane  Werding: Wenn du denkst, du denkst du denkst. (Youtube-Video)


Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

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