«Basta calcio»

Blog-Nr. 339



Euro2024 (4)




Alles am Abend nach einem schwülwarmen Tag mit drohendem Gewitter am saharaluftgrausandigen Himmel.

Granit Xhaka. Bob Dylan. Eine Bühne. Ein Screen. Freuler! Einige rote Leibchen. Niemand azurblau. Ein Piano. Lauter Jubel. Ein Schreihals. Gooooooo (und 20 weiter «o’s)l! Eine Gitarre, Schlagzeug und Saxophon. Die Brille von Murat Yakin. Musiker, die aus Rom, Palermo, Köln, Florenz und der Insel Ischia kommen. Leise Töne. Vargas! Ein Aufschrei.

Und das alles innert sechs Stunden. Zuletzt war es nach Mitternacht, längst  prasselte starker Regen nieder.

Es war der Samstagabend in Wald im Zürcher Oberland. Der Ort in diesem Dorf war einmal eine Textilfabrik, und weil zu Beginn des 19. Jahrhunderts Baumwolltücher an der Sonne gebleicht wurden, heisst das Zentrum jetzt «Bleiche», mit einer Beiz, einem Hotel, Wellnessanlagen, einem Bad und manchmal auch einer Bühne für kulturelle Veranstaltungen. Wie an diesem Abend.

Pippo Pollina, der Cantautore aus Sizilien und seit langem dem Zürcher Seefeld, und Wolfgang Niedecken, der Chef der deutschen Rockgruppe BAP, traten auf, einzeln und nachher gemeinsam, der eine sang italienisch, der andere deutsch, auf kölsch war vieles nicht leicht zu verstehen.

Wolfgang Niedecken und Pippo Pollina, kölsch und italienisch

Zuerst aber dieses Vorspiel, 18 Uhr, Schweiz gegen Italien, Achtelfinal der Euro2024, die rosarote «Gazzetta dello Sport» schrieb gross auf der Titelseite «Pensaci tu», dazu das Bild von Torhüter Gigi Donnarumma, er soll die Versicherung sein, die Angst bei den Azzurri war gross.

Erst Fussball, dann Musik also, mit Zweien, die Fussball auch gerne sehen, Niedecken gar leidenschaftlich, der 1. FC Köln ist sein Herzensverein, er schaut beim Planen einer Tournee, dass sich die Daten nicht überschneiden, er will im Stadion sein, wenn Köln spielt; Pollina war zuletzt vor 30 Jahren selber in einem Stadion, bei der US Palermo, wo er herkommt, der jetzige Fussball mit seinen Auswüchsen macht ihm eher Mühe, aber auch er kann sich ihm nicht entziehen, sass schon bei einigen Spielen dieser Europameisterschaft irgendwo vor einem TV.

Schweiz gegen Italien war sein Spiel, zwei Herzen.

Gemeinsam verfolgten Pollina und Niedecken mit allen Musikern das Vorspiel zu ihrem Konzert, doch bevor das Spiel in Berlin beendet war, hatten jene, die aus Italien angereist waren, den Raum mit dem grossen Bildschirm verlassen, wortlos. Auch Pippo Pollina ging in sein Hotelzimmer zurück, noch nie habe er eine so schlechte italienische Nationalmannschaft gesehen, sie sei eine Metapher für die Misere des Landes, aber – sein zweites Herz – die Schweiz könne ins Finale kommen, und er schrieb eine SMS: «Wir gönnen es uns.» Uns, schrieb er.

Als er dann auf der Bühne stand, sagte er zum Publikum «das Wetter hält» und das sei für die Italiener die schönste Nachricht des Tages, aber nun: «Basta calcio»

Erst sang Pollina eigene Lieder, dann tat es Niedecken, in den, wie er sagte, zwei Weltsprachen, Englisch und Kölsch, einige Songs von Bob Dylan, den er so verehrt und der ihn immer wieder inspiriert, auch zu einem Buch, seine Reise mit Dylan. Er las daraus vor.
 
«Verdammt lang her», in der Version von Wolfgang Niedecken und Pippo Pollina in Wald. (Youtube Fredy Wettstein)

Und dann standen beide gemeinsam auf der Bühne, mit den wunderbaren Musikern aus Pippos Band, die Niedecken wenige Stunden zuvor erstmals gesehen hatte und nur kurz proben  konnte, zuletzt sangen sie auch das Lied, das zum grössten BAP-Hit wurde, «Verdammt lang her», acht Minuten lang dauerte ihre Version in Wald. Und es ist auch verdammt lang her, seit Niedecken diesen Song komponiert hatte, 1981 war es gewesen. Seither singt er ihn mit seiner Band bei jedem Konzert, ausser einmal in Peking, da war es als Zugabe geplant, aber weil es in China keine Zugaben gibt, konnte es das Publikum nicht hören. Auch das erzählte Niedecken, lachend.

Verdammt lang her war aber auch der bisher einzige Schweizer Sieg gegen Italien an einem grossen Turnier, 1954 bei der WM in der Schweiz war es gewesen, vor fast genau 70 Jahren.

Der 29. Juni 2024 schrieb Geschichte. Auch in Wald.


Abschied im Regen nach Mitternacht



Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

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