Torjäger

Blog-Nr. 322


Ein Tor als Gesamtkunstwerk. So hören wir die Reporter manchmal schreien und das «Goooooooooooool» hat dann, je nach Sprache, sehr viele Buchstaben, oder wir lesen es, und ich habe es auch schon geschrieben, damals in einem Stadion, wo wir entzückt waren und Tore zur Poesie wurden, zu einem Gemälde, einem Gedicht.

Und wir behalten diese besonderen Tore im Kopf, schauen sie immer wieder an, es können Tore sein, über die alle reden, die Fussball lieben, und die Geschichte geschrieben haben, aber auch solche, die nur wenige Augen sahen, auf einer Schulwiese oder irgendeinem Rasen in einem Dorf, ohne Publikum, nur der Schütze hat sie als Erinnerung. Nirgends dokumentierte Tore.

Aber jedes Tor hat eine Geschichte. Immer wieder ist es auch eine Zufallsgeschichte.

Und manchmal hören wir von einem Tor aus früheren Zeiten, und wir wollen es uns im Kopf vorstellen und haben doch Mühe. So ging es Javier Cáceres, einem brillanten Journalisten der «Süddeutschen Zeitung», der fast schon überall war, wo Fussball gespielt wird. Als er 2005 in Santiago de Chile den Stürmer Leonel Sánchez besuchte, für sein Land bei der WM 1962 eine grosse Figur, erzählte dieser von einem wunderbaren Tor, nur konnte sich Cáceres im Kopf kein Bild davon machen.

Er bat Sánchez, es ihm in seinem Notizbuch zu zeichnen. 

Und so begann es. Cáceres hatte fortan sein schwarzes Büchlein immer bei sich, und immer wenn er einen Fussballer traf, und er traf viele, fragte er sie nach dem Tor, das ein besonderes war und bat sie, es zu zeichnen, bitte. Fast alle taten es. 20 Jahre lang.

Cáceres wurde zum Torjäger nach Toren. Mit Fuss oder Kopf erzielt, jetzt von Hand gemalt.

Buchautor Javier Cáceres (rechts) mit Giovane Elber 

Und an diesem Dienstagabend sitzt er in einem Stadion, das eine Bar ist, in München an der Schleissheimer Strasse, ein Kultort für Fussballfans, die Fladen auf der Menükarte heissen «Zidane» oder «Totti», einen «Tuchel-Bowl» gibt es, sogar die legendäre Bochumer Stadion-Currywurst, viele Fotos und Plakate und Wimpel und Leibchen hängen an den Wänden, es riecht alles nach Fussball. Und an diesem Abend nach Toren.

Cáceres stellt sein Buch vor, «Tore wie gemalt», über 300 Seiten, keine Bilder, nur Zeichnungen, 118 insgesamt, und die Texte dazu, 118 Geschichten. Tore, die grosse Fussballkünstler einmal geschossen haben und bereit waren, sie ins Buch von Cáceres zu kritzeln, um sie so nochmals zur Kunst zu machen. Bei einigen sind es nur ein paar Striche, Punkte, Linien, Pfeile, auch Namen, um es verständlicher zu machen, ein wirres Gekritzel, bei anderen verschlungene Wege, die aber immer zu einem Tor führten.

Fast all die Grossen des Balls hat Cáceres getroffen, Beckenbauer sagte zuerst «Mal es selber» und tat es einige Jahre später doch; Gerd Müller und die WM 1974, das typische Müller-Tor; Roberto Carlos, krummer kann ein Freistosstor nicht sein, Wissenschaftler hatten sich damals sogar darum gekümmert, wie so etwas nur möglich ist, diese irre Flugbahn; Tore von Di Stefano, Kempes, Guardiola, Lineker, Götze, WM 2014!, Van Basten, Giovane Elber, dessen Karriere auf dem Hardturm in Zürich begann, von vielen; von Netzer, der 1973 im Cupfinal von Trainer Weisweiler nicht aufgestellt wurde, im Hotel abreisen wollte, nicht im Mannschaftscar, sondern mit seinem Ferrari ins Stadion fuhr, sich dann in der Verlängerung selber einwechselte und das Siegestor schoss, obwohl alles falsch gelaufen war.

Drei besonderere unter vielen Besonderern:

Auf Seite 34 Michel Platini: Er nennt es sein bestes Tor, 1985 im Weltpokalfinal in Tokio, auf seiner Seite im Notizpunkt steht jedoch nur seine Unterschrift, in Freundschaft. «Ein Spektakel von Tor! Aber ich kann es nicht malen. Weil der Schiedsrichter es einfach aberkannt hatte.»

Auf Seite 82: Lilian Thuram: Seine berühmtesten Tore waren jene zwei 1998 beim 2:1 im WM-Halbfinal gegen Kroatien, aber der Franzose erzählt von einem anderen, erst 12 war er gewesen, er wohnte in der Armut der Banlieues, wollte unbedingt in einem Klub spielen, bei dem sie ihn wegen seiner Herkunft eigentlich nicht akzeptierten, er durfte aber zu einem Probetraining und in einem Mätschli wollte er flanken, schoss aber ein Tor. Sein wichtigstes, wie er sagt, der Beginn einer Karriere auf der grossen Fussballbühne. Thuram malte auch ein Herz auf seine Zeichnung.

Auf Seite 124 Pelé: Er redete vom wichtigsten, vom schönsten, vom schwierigsten Tor, nahm sich dann viel Zeit für die Zeichnung, mehr als alle anderen, malte ein Tor, einen grossen Ball, ein Netz, schrieb darin «Gooool» und eine Zahl: 1.282. Alle seine Tore seien wichtig.


Was spürt man bei einem Tor? Jorge Valdano, der grosse Fussballer, Weltmeister mit Argentinien 1986, aber der noch grössere Fussballpoet schreibt im Vorwort: «Bei all meinen Toren habe ich etwas Ähnliches gespürt: eine Elektrizität, die Geist und Körper in den Sekunden, die uns einzigartig machen, zum Orgasmus bringen. Das Tor ist die Herrlichkeit selbst. Punkt. In Javiers Buch sind sie gemalt, damit sie nicht nur in Erinnerung bleiben, sondern auch auf dem Papier, auf immer und ewig.»

Ein Tor ist nicht im Buch. Nur exklusiv hier, auf diesem Blog. Javier Cáceres hat auch einmal Fussball gespielt, bei Werder Bremen in der C-Jugend, 1982 muss es gewesen sein, zwölf war er damals. Ein Eckball, Cáceres stand im Strafraum, nahm den Ball direkt ab. Ein schönes Tor soll es gewesen sein, habe der Schiedsrichter gesagt. Er lacht dazu, an diesem Dienstagabend im Stadion, das eine Fussball-Bar in München ist.

Exlusiv, nicht im Buch: Javier Cáceres und sein gemaltes Tor

Die zweite Auflage dieses Tormalbuches sollte mit seinem Tor ergänzt werden. Als Ersatz für ein Gekritzel von Diego Maradona. Den Argentinier konnte Cáceres leider nie persönlich treffen, sein Tor des Jahrhunderts gibt es nicht persönlich gemalt, es wäre ein kostbares Kunstwerk.

Und als Diego Maradona starb, wusste Cáceres: Jetzt ist das Buch fertig.

Tore wie gemalt. -  Javier Cáceres. - Insel-Verlag, Verlag. - 317 Seiten. - www.insel-verlag.de

Informationen zum Buch:



Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

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