Sucht

Blog-Nr. 318




Ich bin süchtig. Hoffnungslos süchtig.

Die erste Nachricht am Morgen, kaum habe ich das Handy in der Hand, ich bin noch ziemlich verschlafen, kommt von Silvana, gestern war es Lisa, vorgestern, wenn ich mich richtig erinnere, von Mary, vielleicht war es auch Marianne oder Sarah. Aber eigentlich ist der Name gar nicht so wichtig, nur ihre Botschaft schreckt auf, es ist keine morgendliche Liebeserklärung.

Im Gegenteil.

Ich werde gewarnt. Mit nur einem Satz: Mein Aufstieg sei in Gefahr. Ich sei nicht mehr unter den ersten Sieben. Und nur die ersten Sieben könnten aufsteigen. Immerhin kennt sie meinen Namen: Fredy. Ich hatte ihn ihr mal anvertraut, und sie – ob Silvana, Lisa, Mary oder Marianne oder doch Sarah, es gab auch schon andere Namen, immer waren es aber Frauen, der Kreis meiner Unbekannten ist gross – muss ihn gleich notiert haben.

Und ja, «Lieber» schreibt sie dazu, immerhin.

Aber sie warnt mich. Und macht mich hellwach. Handy in der Hand steige ich aus dem Bett, schleunigst an den Tisch im Wohnzimmer, ungeduscht, unrasiert, ungeputzt (Zähne), sie kann mich ja nicht riechen, und ich will ja nur sofort sehen, wovor sie mich früh am Morgen warnt.

Es ist so. Platz 11, nur noch Platz 11; als ich eingeschlafen war, stand ich noch auf Platz 5, also unter den ersten Sieben, aber jetzt: Jessica, Sita, Giusy, Lu, Maggi, Nino, Ruben, Josef, Michelle, Sebastian – alle vor mir. Jessica, Jespis steht dazu in ihrem Profil, muss eine enorme Streberin – oder ein aussergewöhnliches Talent – sein, sie steht mit grossem Abstand zuvorderst, uneinholbar.

Immerhin: Abstiegsgefahr herrscht bei mir noch keine. Erst ab Rang 24, und bis dahin ist der Vorsprung gross. Die Fussballer von GC müssen viel mehr zittern.

Aber ich will doch aufsteigen. Auch wenn es mir in dieser Liga gefällt.

Amethyst heisst sie, wie der Edelstein mit den heilenden Kräften und der schönen Farbe (violett). Das Wort kommt aus dem Griechischen, amethystos, dem Rausch entgegenwirken, Wein aus einem Becher Amethyst soll nicht betrunken machen und zu keinem Kater führen. Und ein Kater wäre schlecht, wenn man aufsteigen will.

Dieser edle Stein soll auch allen Kummer verscheuchen und negative Energien beseitigen, den Geist reinigen, das Herz und die Nerven beruhigen, vor Albträumen schützen. Gut so.

Fredy, leg los! Sage ich mir also. Und sitze am Tisch, das Handy vor mir.

Nach wenigen Minuten habe ich das erste Ziel erreicht: Sie – sie hat jetzt keinen Namen – gratuliert mir: Der 50. Streak, 50 Tage nacheinander heisst das. Bravo. 

Aber ich will mehr. In die Aufstiegszone. Und bleibe am Tisch sitzen, will einige Male aufgeben, ziemlich erschöpft und etwas unkonzentriert geworden, werde aber gebeten, weiter zu machen, und ich mache weiter, 30 Minuten, 40 Minuten, noch immer ohne meinen ersten Espresso, immer weiter, fast eine Stunde lang.

Eben: ich bin süchtig.

Morgen früh auf dem Handy: Los!

Duolingo heisst die Sucht, die App mit der grünen Eule. Ich lerne Spanisch. Seit inzwischen mehr als 50 Tagen. Es ist die erfolgreichste Sprachlern-App der Welt, ein Schweizer Informatiker, Severin Hacker (40), hat sie mitentwickelt. Bald 100 Millionen Menschen weltweit nutzen sie monatlich. Müssen also auch süchtig sein.

Bis zu Rang 5 habe ich es an diesem Morgen geschafft. Wieder in der Aufstiegszone. Aber Maggi, Nino und Ruben bedrängen mich.

Und Silvana, Lisa, Mary oder Marianne oder doch Sarah oder eine Neue werden mich bald wieder warnen. Es wird wieder keine Liebesbotschaft sein, von wem auch immer.

Statt Spanisch könnte es übrigens auch Hawaiianisch, Schottisch-gälisch oder Vietnamesisch sein.

PS: Zwischendurch – ich weiss: süchtig – hatte ich es mal auf Platz 3 gebracht, in die Medaillenränge,  morgens um viertel nach eins war es, mit todmüden Augen, aber als ich am Morgen erwachte, leuchtete das auf. Giusy muss in einer anderen Zeitzone zu Hause sein, sie büffelt immer, wenn es bei uns Nacht ist ...






Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» 

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