Vor zwei Jahren

Blog-Nr. 309


Zwei Jahre Krieg, zwei Jahre Leid, Schmerz, hunderttausende Tote, Elend und ein Ende nicht in Sicht. Wenige Tage, nachdem die Russen ihren Bruderstaat Ukraine am 24. Februar 2022, um vier Uhr morgens Schweizer Zeit, überfallen hatten, schrieb ich diesen Blog. 

Er ist aktuell wie damals. Ich veröffentliche ihn deshalb nochmals, in gekürzter Form, nur zweimal ergänzt. Es sind spontane Gedanken, die damals durch den Kopf gingen, Gedanken von mir und Gedanken, die Menschen in Zeitungen und am TV äusserten.




Lena K., eine Ukrainerin, die seit 15 Jahren in Zürich lebt, schaut alle paar Stunden in den Whatsapp-Status ihres Bruders. Sie will sehen, ob er noch lebt. Ihr Bruder ist im Krieg in Kiew. So erzählt sie es an diesem Nachmittag im Radio SRF 1.

Wir sehen überall Bilder. Es ist ein Krieg in Bildern. Live, auf den verschiedensten Kanälen. Noch nie gab es so viele Bilder von einem Krieg. Wir werden zugemüllt mit Informationen. Aber was wissen wir wirklich?

Wladimir Putin wirkt wie ein Grossvater im Bunker, sagt einer in einer Diskussionssendung am Fernsehen, in seiner eigenen Welt mit seinen grotesken Monstermöbeln, seinem starrem Blick, der böse Gedanken ausstrahlt.

Und dort Wolodimir Selenski in seinem olivgrünen Shirt, wie ein Influencer wirke er, der sich draussen in den Strassen von Kiew selber filmt und alles auf den sozialen Medien verbreitet. Er war bis vor kurzem Komiker und Schauspieler, hat einmal in einem Film den Präsidenten gespielt. Jetzt ist er es.

Wo ist unser Schutzraum, wohin müssten wir gehen, wenn ...? Haben wir je gedacht, dass wir uns einmal eine solche Frage stellen müssen?

«Russland ist per se nicht schlecht, und Putin ist zum Glück nicht Russland. Auch viele Russen sind über das, was in diesen Tagen geschieht, und die Aussichten, die damit verbunden sind, hell entsetzt.» Steht in der NZZ.

«Papa, weshalb braucht Putin so viel Land?», fragt in Zürich die kleine Marta ihren Vater Roman Vorushin. Steht im Tages-Anzeiger.

«Die Welt hat das Monster erblickt, wahnhaft, gnadenlos. Ganz allmählich war das Ungeheuer gewachsen, berauscht von absoluter Macht, imperialer Aggressivität und Gehässigkeit, angetrieben von Ressentiment gegenüber dem Ende der UdSSR und von Hass auf die westlichen Demokratien.» Schreibt Wladimir Sorokin, der als bedeutendster zeitgenössischer russischer Schriftsteller gilt, in der «Süddeutschen Zeitung».

Wir wollen Frieden. Und alle reden plötzlich von Aufrüstung. Mehr Geld für kriegerische Waffen, eigentlich ein Irrsinn.

«Für die Mehrheit der Deutschen ist Putin kein Feind, wohl aber für den medialen Betrieb der Journalisten und Intellektuellen. Sie hassen den russischen Präsidenten von Herzen, weil er für all das steht, was sie ablehnen, verteufeln und was deshalb nicht sein darf: Tradition, Familie, Patriotismus, Krieg, Religion, Männlichkeit, Militär, Machtpolitik und nationale Interessen. Putins Verbrechen besteht aus ihrer Sicht darin, dass er die grösste Schwäche des Westens aufgedeckt hat: politische Korrektheit.» Das schrieb Weltwoche-Chefredaktor und -Verleger Roger Köppel am 24. Februar unter dem Titel «Kleine Psychologie der Putin-Kritik.» Köppel verbreitete das am Tag, als Putin seine Soldaten in die Ukraine einmarschieren liess. Er schrieb auch: «Vielleicht, hoffentlich ist Putin der Schock, den der Westen braucht, um wieder zur Vernunft zu kommen.»

(Und  eine Anmerkung zur Aktualität: Ein grosses Porträt von Putin und dazu die Schlagzeile «Der Missverstandene» – so präsentierte Köppel die Titelseite in der vorletzten «Weltwoche», seinem Propagandablatt.

Schon hunderte Male haben wir - war es nicht jeweils an einem Mittwoch, um zwei Uhr? – die Sirenen heulen gehört. Zu Testzwecken. Und wenn sie jetzt an einem Samstag ertönen?

Im «Spiegel» steht: «Die Putin-Versteher überall auf der Welt, sie tragen eine Mitschuld an diesem Krieg.»

Der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque sagte einmal: «Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen die Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind. Besonders jene, die nicht hingehen müssen.»

Das Konzert von Anna Netrebko in Zürich findet nicht statt. Das Opernhaus schreibt, man habe feststellen müssen, «dass unsere entschiedene Verurteilung von Wladimir Putin und seinem Handeln einerseits und Anna Netrebkos öffentliche Position dazu andererseits nicht kompatibel sind». Netrebko wird so ziert: «Dies ist nicht die Zeit, in der ich Musik machen und auftreten kann.»

Zwei Jahre haben wir täglich auf Zahlen geschaut, immer kurz nach Mittag; oh schreck, wieder sind sie gestiegen. Jetzt erwachen wir und erschrecken über neue Push-Meldungen, jetzt kommen sie aus der Ukraine. «Gemessen an einem Krieg vor unserer Haustür sind die Corona-Debatten albern», sagt die Soziologin Katja Rost. Und der Autor und Filmemacher Alexander Klug in einem Interview mit der «Zeit»: «Das Einzige, was absolut unbeherrschbar bleibt, ist Krieg. Krankheit kann man heilen, Krieg nicht.»

«Diktatoren sagen nie: Warum? Sondern: Warum nicht», sagt Garri Kasparow, Schachweltmeister und Kreml- und Putin-Kritiker, er lebt inzwischen mit seiner Familie in New York.

«Wir sollten alles tun, damit dieses Monster ein für alle Mal Vergangenheit bleibt.» Nochmals Sorokin.

Im Café du Commerce in der Berner Altstadt kommt ein Gast durch die Tür, schön sei es wieder, Normalität, sagt er. «Ja, ja», antwortet der Chef, er sagt es besorgt, «wenn nur der Putin nicht spinnen würde.» Später, im Casino-Theater, beim dritten Unplugged-Abend von Patent Ochsner, kündet Büne Huber das zweite Lied im Konzert so an: «Üsi Gedanke gö i Oschte, id Ukraine, zurä Frou, sie heisst Ludmilla.»

In der «Zeit» schreibt Chefredaktor Giovanni di Lorenzo: «Im Moment sind wir alle Ukrainer. (...) 55 Prozent unseres Gases kommen von Russland, 45 Prozent der Steinkohle, 34 Prozent des Rohöls. Sollte dieser Energiefluss infolge der Sanktionen versiegen, werden wir dann auch bereit sein, für die Ukrainer zu frieren, vor allem aber: zu blechen?»

Wir stellen uns lieber nicht vor, wie es wäre, wenn in den USA der andere noch Präsident wäre.

Im Radio, auf irgendeinem Sender, sagt der Moderator, es sei das Lied zum Tag, «Wir ziehen in den Frieden», Udo Lindenberg singt es, es heisst darin:

«Ich steh vor euch mit meinen alten Träumen
Von Love und Peace und jeder Mensch ist frei
Wenn wir zusammen aufstehen, könnte es wahr sein
Es ist soweit, ich frag, bist du dabei
Wir ham doch nicht die Mauer eingerissen
Damit die jetzt schon wieder Neue bauen
Komm lass uns jetzt die Friedensflagge hissen
Wir werden dem Krieg nicht länger tatenlos zuschauen
(...)
Wir brauchen keine machtgeilen Idioten
Mit ihrem Schmiergeld von der Waffenindustrie
Ich höre John Lennon singen ‘Give Peace a chance`
Und es klingt wie ein Vermächtnis aus dem All
Damit das Weltgewissen endlich aufhört
Denn es ist 5 Sekunden vor dem grossen Knall
Aber wir sind überall»

«Zu diesem schrecklichen Desaster wäre es nie gekommen, wenn uns die Wahl nicht gestohlen und ich noch Präsident wäre», sagte der andere in diesen Tagen bei einem Auftritt vor seinen Getreuen und beklatscht sich selber.

(Zweiter aktueller Einschub: Die grosse Angst geht um, der andere da drüben wird im Herbst wieder amerikanischer Präsident. Was dann?)

In Russland wird ein Gesetz verabschiedet, das für «unzutreffende Berichterstattung» über die Streitkräfte und Falschinformationen über die Armee eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren vorsieht. Krieg darf nicht Krieg genannt werden. Es heisst: ein militärischer Sondereinsatz.

Von dem, der in seinem Wochenblatt Putin verstehen will, ist zu lesen: Moralismus verhindere den Frieden. Man dürfe kein Brett vor dem Kopf haben. Der Westen habe die Russen in die Enge getrieben. Es gebe immer zwei Seiten.

Aber eine Seite, einer, hat ein Brudervolk überfallen und droht uns mit dem Atomkoffer in der Hand.

Die ukrainische Politikern Lesia Vasylenko, 34, twittert (auf deutsch übersetzt): «Ich weiss nicht mehr, was ich schreiben soll. Zum zweiten Mal in drei Monaten musste ich mein neun Monate altes Baby abgeben, ohne zu wissen, ob ich es jemals wiedersehen werde. Das ist ein Schmerz, den nur eine Mutter kennen kann. Es ist schmerzhafter als der ganze Krieg zusammen. Die Menge an Hass in mir wächst jeden Tag.»


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