Gress und seine Bürste

Blog-Nr.: 306



«Wo sind Sie nur?», der Anruf kam nur wenige Minuten nachdem wir den Bahnhof in Strassburg verlassen hatten.» – Hier, wo Sie sagten, wir sollen auf Sie warten, 100 Meter nach rechts, wenn sie den Bahnhof verlassen.» –  «Ich sehe Sie nicht.» –  «Wir auch nicht».

Das war der erste Dialog an diesem Mittag anfangs Januar, als wir Gilbert Gress besuchten. «Hören Sie, seit 50 Jahren warte ich immer hier, wenn mich jemand besucht, haben mich alle immer gefunden, nur Sie nicht. Sie sind alt geworden.»

Wir fanden uns doch noch, drei Kollegen vom Tagi, die ein Interview mit ihm machen wollen, und ich. Gress stand an einem Strassenrand vor seinem Auto und winkte, an einem Ort, wo eigentlich kein Auto stehen sollte, es war noch etwas 200 Meter weiter entfernt.

Zum Stade de le Mainau, wo der Racing Club de Strasbourg spielt, wollte er zuerst nicht hinfahren, «non, non, dahin gehe ich nicht, seit 15 Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen». Aber dann liess er sich für den Fotografen doch überreden, posierte in verschiedenen Stellungen, aber stets war nur eines wichtig: «Herr Wettstein, wie sind meine Haare?», und er griff in seine Jackentasche, nahm seine Bürste hervor, richtete seine Haare oder jene, die noch vorhanden sind, quer über seine Kopfhaut sollen sie liegen, schön ausgerichtet. «Ist es gut so?« fragt er, seine Frau habe gesagt, er solle darauf achten, für die Fotos.

Die Frisur sitzt: Gilbert Gress beim Interview

Vor fast 15 Jahren war ich auch in Strassburg gewesen, weil er zurück gekommen war zu seinem Klub, zum dritten Mal, es ist eine amour fou mit Strassburg, und seine Frau hatte ihm damals schon gesagt: «Schilles, mach das nicht.» Und damals um Mitternacht, es war immer noch schwül, hatte er draussen im Garten in seinem Restaurant Le Pont des Vosges, das es heute nicht mehr gibt, eine Mousse au Chocolat vor sich und sagte: «Wie komme ich nur hier wieder raus?»

Er hatte das erste Spiel, ein grässliches Spiel war es, in der 2. französischen Division gegen Châteauroux verloren, und Gress jammerte nur, über die Spieler, den Klub und die unmöööögliche Politik, den unmööööglichen Präsidenten, über Leute, die schlechten Einfluss haben, über alles. Einige Tage später wurde er entlassen, der Klub nachher in die 5. Division zwangsrelegiert.

Es war sein letztes kurzes Engagement als Trainer, 68 war er damals. Die Frage nach dem Alter störte ihn schon damals: «Hören Sie, hätte der Picasso mit 60 aufhören sollen zu malen oder Aznavour zu singen.»

Jetzt, an diesem Januartag im Elsass, Gress sitzt am Steuer seines Autos und ärgert sich über die Baustellen und Wege, die er nicht mehr fahren darf, 83 ist er inzwischen, aber hören Sie, «ich fühle mich wie 41». 1941 ist sein Jahrgang.

Das Interview mit ihm, erschienen in der SonntagsZeitung (hier zu lesen), ist herrlich, es hat nicht ganz so stattgefunden, wie es dann gedruckt wurde, Gress redet pausenlos und ohne Unterbruch und manchmal auch durcheinander, er hat neben sich einen Stapel mit Notizen, dass er ja nicht vergisst, was er alles sagen will, und auch seine Frau, so sagt er einige Mal, habe gesagt «Schilles, sag' das auch», und er spricht über vieles und erinnert sich an tausend Sachen und Begegnungen, manches ist amüsant, einiges ernsthaft, vieles beeindruckend, und klar, die Frage musste gestellt werden: Herr Gress, möchten sie nochmals Trainer sein?

Er sagt nicht sofort ja, sicher will ich das, ich bin immer bereit, wie er es früher jeweils sagte, er ziert sich jetzt etwas, lässt dann durchblicken, dass es nun wohl vorbei sei, um aber aber in einem nächsten Satz zu sagen: Wenn ein Klub kommt mit einem guten Präsidenten….

Seine Frau, mit der er 60 Jahre verheiratet ist, würde ihn wohl einsperren.

Zurück beim Bahnhof, er hat sich wieder geärgert, über Umwege, die er fahren musste wegen diesen Baustellen, sagte er: «Aber kommen Sie nicht erst wieder nach 15 Jahren». Er wird auch dann noch 41 sein. 

Nur seine Haare sind dann vielleicht ein Problem: Kann die Bürste dann noch etwas nachhelfen? Bei sich in der Jackentasche wird er sie sicher auch dann noch haben.


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