Im Tram

Blog-Nr.: 297

Eine (nicht nur) weihnächtliche Geschichte




Es war im Zweier, am Freitagabend, draussen sah es aus, als ginge die Welt gleich unter, grauer als grau, sehr feucht, sehr nass, sehr windig, sehr … ach, das ist eine andere Geschichte.

In diesem Tram, im Tiefenbrunnen eingestiegen, es war noch fast leer, kamen bei der ersten Haltestelle zwei Männer dazu, einer am Stock, der andere mit einem ziemlich wackeligen  Gang, sie sind noch keine Greise, aber alt, ihre Kleider und Haare völlig durchnässt, beide haben eine Flasche in der Hand und einen Sack, in den vieles gestopft ist. Der eine sagt zum anderen, er spricht langsam und undeutlich, was machst du morgen und übermorgen? Der andere schaut ihn nur an, sagt nichts, beide schweigen jetzt, bis plötzlich der eine sagt, sie sitzen nun direkt vor mir, komm, wir fahren morgen und übermorgen zusammen einfach Tram bis sie nicht mehr fahren, sie fahren ja bis nach Mitternacht ... ach, das ist eine andere Geschichte.

Mein Ziel ist der Bürkliplatz, Circus Conelli an diesem Abend, auch diesmal und für immer ohne Gaston, den wunderbaren Clown, nie mehr «mir isch glich». Wie sehr hat er uns früher in diesen weihnachtlichen Zeiten zum Lachen gebracht oder schmunzeln ... ach, das ist eine andere Geschichte.

An der Haltestelle Feldeggstrasse steigen zwei junge Mädchen ein, kaum zehn vielleicht, sie schwatzen ununterbrochen und lachen und hüpfen im Tram und erzählen vom lässigen Nachmittag, es muss, so denke ich, ihr Schulsilvester gewesen sein, der Lehrer sei so lustig gewesen wie noch nie. Ich  denke zurück an unsere Schulsilvester, damals vor vielen Jahrzehnten morgens um fünf oder war es gar vier, hat uns die Mutter geweckt, und dann haben wir die Pfannendeckel genommen, die Mutter hat gesagt, bring sie aber wieder heim, und wir sind losgezogen in die dunkle Nacht und haben gelärmt und an vielen Hausglocken sturmgeläutet und gehofft, irgendwo unseren Schulschatz zu treffen ... ach, das ist eine andere Geschichte.

Und jetzt, an der Kreuzstrasse, steigt einer ein, er kann die Pakete beinahe nicht tragen, so viele sind es, alles Geschenke, man sieht es, er wirkt gestresst, mürrisch, gar nicht glücklich ... ach, das ist eine andere Geschichte.

Ich hatte vorher die «Spiegel-Chronik» gelesen, ich lese gerne so gedruckte Magazine am Ende des Jahres, um nochmals zurückzublicken - wie lange gibt es das noch, gedruckte Zeitungen und Magazine? ach, das ist eine andere Geschichte -, und da las ich: Von der Klimakrise, die aber an Aufmerksamkeit verloren hat, wegen der Kriegen und all der anderen schrecklichen Bilder aus dem Jahr 2023, dem Jahr des Rückschritts und den vielen schlimmen Nachrichten, und dann kam ich zur Seite 62 von total 178, «Der Fall Trump», und ich hatte endgültig keine Lust mehr  zu lesen ... ach, das ist eine andere Geschichte.

Und dann fiel mir diese Geschichte ein, ich hatte sie nachmittags gelesen, im Magazin der «Zeit», der Kolumnist erzählte von einem kürzlichen Besuch in einem Hospiz, wo die Menschen liegen, die sterben müssen oder wollen. «Das Wunder im Hospiz» war sein Titel, und er beschrieb, was den Menschen im Angesicht des Todes noch alles wichtig wird. Am Ende hiess es:

«In uns Menschen steckt eine geheimnisvolle Kraft, die wir selbst nicht kennen und die uns in extremen Situationen zu Hilfe kommt. Die Feigen werden mutig, die Schwachen werden stark, die Hassenden besiegen ihren Hass, und sogar die Toten leben noch einige Zeit weiter. Und das habe wohl mit Weihnachten zu tun und mit der Hoffnung auf Erlösung von unseren Fehlern.»


Ach, doch noch eine schöne weihnachtliche Geschichte, denke ich jetzt, im Bellevue angekommen, rasch ins Odeon, in dieses Lokal mit auch viel Geschichte, von irgendwoher schallt es «Merry Christmas» über den Platz, alle suchen Schutz unter dem Dach vor dem Regen, der noch stärker wurde, es stürmt beinahe.


Und dann, später im  Conelli, kommen dann doch noch ein paar Tränen. Wegen Gaston. Er fehlt.





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