Verloren

Blog-Nr.290



Wo liegst du? Irgendwo musst du doch sein. Nur noch das geht mir durch den Kopf. Wo? Hat dich jemand gefunden? Und was hat er oder sie mit dir gemacht? Einfach mitgenommen? 

Du bist weg.

Angekommen zu Hause, zurück von einer Reise nach Costa Rica, ins wunderbare Land ohne Armee und mit unendlich grüner Natur, merkte ich es. Ich suchte dich zuerst überall in der Wohnung, du musst doch da sein, irgendwo ausgepackt. Unter dem Stapel Zeitungen? Warst es nicht.

Und ich überlegte: Wo habe ich dich zum letzten Mal gesehen? Im Frankfurter Flughafen ganz sicher. Beim Sicherheitscheck. Ich habe dich aus meinem Rucksack genommen, wie es Vorschrift ist, und dich in eine Plastikablage gelegt, du ganz allein, sorgfältig, ich weiss, du bist kostbar. Und dann?

Habe ich dich, als du geröntgt wurdest, auch wieder aus der Ablage zurückgenommen? Hm. Eine Erinnerungslücke, sicher bin ich nicht, aber ich versuche, Bilder aus dem Kopf abzurufen. Doch, schwach, kommt eine Erinnerung: Nicht in den Rucksack, sondern in einen Plastiksack, in dem einiges anderes steckt, was sich unterwegs auf einer Reise ansammelt, Souvenirs, Zeitungen, alles mögliche, habe ich dich versorgt. Es pressierte, das Check-in für den Anschlussflug nach Zürich begann bald, die Wege in Flughäfen sind weit, besonders in Frankfurt.

Und ja, aus diesem Sack ist nachher auf meinem Sitz 11F einiges rausgefallen, ich habe es wieder eingesammelt, aber nicht an dich gedacht, du hättest ja im Rucksack sein sollen. Also! Also?

War es so? Oder bilde ich es mir nur ein? Wo bist du jetzt? Ich bin so hilflos ohne dich.

Telefonnummern suchen; nein, Sie sind bei der Lufthansa Zentrale, Sie müssen beim Fundbüro anrufen, aber zuerst eine Vermisstenanzeige aufgeben, per Mail; gemacht und dorthin angerufen, nach dem x-ten Versuch: Tut mir leid, es wurde nichts abgegeben, aber rufen Sie auch auf dem Büro im Flughafen in Zürich an; auch diese Nummer gewählt, wieder tut es jemandem leid, aber rufen Sie wieder an, es dauert manchmal zwei, drei Tage, bis etwas zu uns kommt, viel Glück, haben Sie Geduld.

Habe ich nicht.

Vieles geht durch den Kopf. Kein Backup mehr gemacht, seit mehr als zwei Jahren, immer wieder gewollt, immer wieder aufgeschoben, ich bin so nachlässig und unvorsichtig.

Ich sitze, es ist jetzt Sonntagnachmittag, in einem Café im Zürcher Seefeld. Neben und vor mir hat es junge Leute an Tischen mit einem Laptop aufgeklappt, und sie starren auf ihre Bildschirme, schreiben, reden miteinander, bearbeiten irgendetwas, zwischen vergnügt und konzentriert.

Mein Bildschirm: Wo war was? Wie kam ich auf meinen Blog? Wie auf die Musik? Auf die Mails? Auf so vieles. E-Banking habe ich erst kürzlich draufladen lassen. Und einen Zugang für Akkreditierungen zu Fussballspielen. Und die Steuern erledigt, endlich. Und eben: Kein Backup!

Kann ich überhaupt noch schreiben ohne dich? Du warst so geduldig. Ich suchte immer nach Buchstaben und Wörtern, wechselte sie aus und löschte sie oft gleich wieder und fand neue und löschte diese wieder, nie hast du reklamiert. Wie viele Finger brauchte ich, vier, fünf? Sicher nicht zehn. Es war so einfach mit dir.

Früher, vor deiner Zeit, auf Schreibmaschinen, auf meiner Hermes Baby, sie steht immer noch in meiner Wohnung, wie ein Museumsstück: Ein weisses Blatt Papier eingespannt damals, Farbband manchmal gewechselt und neu ausgerichtet, weil es sich verwickelt hat, Papier wieder rausgerissen, neues reingetan, die Tasten waren ziemlich wacklig, einige Buchstaben kaum mehr zu erkennen.

Aber die Hermes Baby war nur für eines da: Zum Schreiben. Nur zum Schreiben.

Und du?

Brauchen wir für alles.
Schreiben.
Fotos.
Mails.
Dokumente.
E-Banking.
Fernsehschauen.
Radiohören.
Rechnen.
Internetsuche.
Spiele.
Vieles andere noch.

Ich überlegte, was alles auf deinem Bildschirm war und werde verrückt. Und ja, vor allem: Alles was zu meinem Blog gehört, war drauf geladen, Schreiben, Produzieren, Vermailen nachher, die verschiedenen Klicks, es war so schwierig und nur mit Hilfe lieber Freunde möglich, einmal alles zu installieren.

Ich bin so eine Nuss, denke ich. Dich einfach zu verlieren. Aber wo? In Frankfurt, im Flieger? Anderswo kann es nicht sein.

Wir haben doch früher, einst, in einer längst vergangenen Zeit, auch immer wieder mal etwas verloren oder zumindest verlegt.

Schulhefte. Mit Aufgaben drin, die wir gemacht haben oder beenden sollten. Das kleine Buch mit persönlichen Notizen, vielleicht solchen zu Liebesbriefen, die wir dann doch nicht abschickten. Tagebücher. Das Büchlein mit all den Telefonnummern, von Hand reingeschrieben, gestrichen, neue zugefügt, aber viele, die ganz wichtigen, hatten wir alle auch im Kopf. Heute wissen wir knapp die eigene.

Fast alles fanden wir irgendwann wieder. Es lag irgendwo.

Ich denke: Es war ja immer nur ein Büchlein für etwas ganz Bestimmtes. Aber du warst alles, für alles. Und du bist weg, alles ist weg. Ohne Backup!

Und so sitze ich in diesem Café, schreibe von Hand in mein schwarzes Buch, weiss, dass ich nachher vieles kaum entziffern kann. Peter Bichsel kommt mir in den Sinn, der einmal gesagt hat, er wisse nach all den Jahren, dass er für eine Kolumne nie ein Thema brauche, sondern nur einen ersten Satz, und dieser erste Satz produziere dann weitere Sätze, das Thema bleibe vage im Hintergrund.

Wo liegst du?

Das ist der erste Satz. Die Frage ist ständig im Kopf. Ich träume gar davon. Stelle mir vieles vor. Du bist vielleicht in fremden Händen. Muss ich dich sofort sperren? Lösche ich dann alles? Bist wertlos, wenigstens für mich. Ich werde verrückt. Verzweifle.

Und denke: He, bist du verrückt, dich wegen so etwas verrückt machen zu lassen? Als gäbe es nicht viel grössere Probleme. Abhängig sein von so einem Ding? Das ist doch krank.

05.59 Uhr: Nicht nach Berlin, nach Frankfurt

PS: Ich sitze im Zug, er fährt nach Berlin, wäre ja schön dort, in Mannheim steige ich um, nehme den ICE nach Hamburg, mit Halt beim Flughafen Frankfurt. Ich hatte am Montag erneut im Fundbüro angerufen, nach dem 82. Versuch nahm eine freundliche Frau ab. Ich sagte ihr die Nummer meiner Vermisstenanzeige, sie wollte noch einiges mehr wissen, wie das Gerät genau aussehe und heisse (ein Mac), welche Farbe (Silber, wie alle), ob es eine Hülle habe (ja), welche Farbe (schwarz) und in einem Sack gelegen habe (nein, nachher wohl ja) – und dann sagte sie, ihre Stimme klang noch freundlicher: Es läge hier, Sie können es abholen. Es sei beim Sicherheitscheck auf der Ebene 3 gefunden worden. Ich umarme sie durch das Telefon. Und schreibe jetzt, zurück über Karlsruhe nach Zürich, auf dir, einiges im schwarzen Buch konnte ich entziffern, manches nicht. Ich lasse dich nicht mehr aus den Augen. Zum Glück gibt es im ICE keinen Sicherheitscheck.


82 Anrufe ins Fundbüro in Frankfurt


Flughafen Frankfurt: Wieder da



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Kommentare

  1. Anonym23.11.23

    Eine wunderbare Geschichte. Erinnert mich an mein verlorenes in Teneriffa. Auch wieder gefunden.

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  2. Simon Moser23.11.23

    Ja so geht es uns allen, nur können wir es nicht so passend in Worte fassen.

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    1. Anonym24.11.23

      Hanspeter Latour 24.11.2023
      Eine Geschichte, toll geschrieben, wie sie vielen von uns bekannt vorkommt.
      Die schlussendliche Erleichterung fühlt man mit!

      Löschen
  3. Anonym24.11.23

    Schöne Geschichte mit Happyend.

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