Lesen am Sonntag



Das Interview stand in der «Süddeutschen Zeitung», mit einem Chefarzt im Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza, Ahmed Abunada heisst er. Er ist inzwischen Deutscher, kürzlich ist er zurückgekehrt nach Berlin, weil ihm alles zu viel wurde im Kriegsgebiet, er nicht mehr hinsehen konnte, wie Patienten vor seinen Augen starben. Er müsse Kraft sammeln, wie er sagt, denn er möchte bald zurück nach Gaza, er will wieder helfen und operieren.

Es schaudert einen nur schon beim Lesen des Interviews. Wie er erzählt, wie Menschen vor dem Krankenhaus verbluteten, wie er entscheiden musste, wer sterben muss und wem er noch versuchte zu helfen, wie sie alte Menschen nicht mehr behandeln konnten und irgendwann auf der Intensivstation alle starben, weil es keinen Sauerstoff mehr gab. Er habe es bereut, sagt er, Medizin studiert zu haben, die Schreie eines kleinen Mädchens würden ihm nie mehr aus dem Kopf gehen.

Es waren Texte in einer sonntäglichen Zeitung, es ist unwichtig in welcher, diese Thematik und Diskrepanz gibt es in allen. Auf der Frontseite steht «Warten auf die Rückkehr» mit vielen kleinen Portraitaufnahmen von Geiseln, die gefangen und verschleppt wurden von der Hamas. Es wird das Leid beschrieben, das schmerzvolle Warten von israelischen Familien auf irgendeine Nachricht der vermissten Kinder oder Angehörigen, wie sie jede Sekunde auf ihre Handys schauen und hoffen. Und wie die Rückkehrer ein Leben lang gezeichnet bleiben, seelisch und körperlich. Ein Kind ist erst 10 Monate alt, es ist weiterhin als Geisel gefangen, von einer Mutter wurde die Tochter inzwischen freigelassen, nicht aber der Sohn.

Etwas weiter hinten in der gleichen Zeitung steht ein Text über unsere Welt «voller Kriege», 2023 sei eines der blutigsten Jahre in der jüngeren Weltgeschichte, seit 1994 und dem Völkermord in Ruanda seien nie mehr so viele Menschen gestorben. Es gehe um die Neuorientierung der globalen Machtverhältnisse, Amerika, China, Indien und Russland kämpfen um die Vorherrschaft in der Welt.

Und weiter hinten in der Zeitung, im Bund «Leben», ist diese grosse Überschrift zu finden: «Im nächsten Jahr muss es besser werden, trinken wir drauf!» Ein Kulinarik-Kolumnist gibt Empfehlungen, welche Weine und Champagner man im Dezember trinken soll. Er beginnt seinen Text mit der Bemerkung, dass es uns angesichts der Kriege und Krisen nicht zum Feiern zumute sei, aber die Winzer des Landes könnten unsere feierlichen Tage gut gebrauchen, denn es gehe ihnen auch nicht gut.

Ein Chefarzt, der das qualvolle Leiden seiner Patienten nicht mehr aushält, das Warten von israelischen Familien auf irgendein Lebenszeichen von eigenen Kindern, unsere Welt voller Kriege – und die Tipps für Weine und Champagner.

Alles an einem Wochenende gelesen. Und auch diesen Titel: «Und jetzt, Deutschland?». Es muss für uns am Samstagabend endgültig ein Leben geben ohne «Wetten, dass …?» mit Thomas Gottschalk, dem König des Ungefähren («Süddeutsche»).

Es ist nass und grau und trist an diesem Sonntag Ende November.


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