Gedanken zu Bildern

Blog-Nr. 288





Bilder erzählen eine Geschichte. Bilder sind oft stärker als Worte, das erleben wir gerade in diesen schrecklichen Zeiten, sie können noch schockierender sein als alles, was wir lesen.

Wir werden überflutet von Bildern, wir alle sind mit den neuen Geräten zu Fotografen unseres Lebens geworden, weil es so einfach geworden ist, etwas festzuhalten. Wir überfluten uns selber, überfordern uns manchmal, weil es zu viele sind.

Und oft machen wir Bilder ohne zu überlegen, ob das Bild auch eine Geschichte erzählt, wir drücken einfach ab, gedankenlos, tausend Momente des Lebens und löschen diese Momente auch gleich wieder, weil wir gar nicht wissen, weshalb wir diese festhalten wollten, es waren Momente ohne Erinnerung und oft auch Bedeutung.

Doch manchmal bleiben die Bilder, sie erzählen ja etwas, wir überlegen uns aber erst jetzt, wenn wir die Bilder nochmals ansehen, was die Geschichte dazu sein könnte.

Wir überlegen uns die Geschichte zum Bild. Oder: Was uns das Bild für eine Geschichte erzählen könnte. Es ist dann unsere Geschichte.

Wie bei diesen Bildern, alle aufgenommen in den letzten Wochen, zufällig, weil ja viele Momente in unserem Leben zufällig zu Momenten werden, am Zürichsee, auf Mallorca, in der Luft über den Wolken, in Costa Rica.




Es war in Küsnacht, oben in Itschnach bei den Sportanlagen, es war ein Sonntagnachmittag, der letzte Tag in den Herbstferien, Kinder spielten Fussball, zufällig fuhr ich mit meinem Bike vorbei, ich hielt an, nicht wegen den Kindern, die dem Ball nachrannten, sondern wegen dem, der hinter dem Gitter und dem einen Tor stand, eine Kapuze übergezogen, die Hände in den Taschen, ich sah sein Gesicht nicht.

Was dachte er: Wollte er auch mitspielen, traute sich aber nicht zu fragen? War er enttäuscht, weil jene, die auf dem kleinen Feld spielten, ihn nicht fragten, vielleicht waren es Kollegen von ihm? Und – auch – meine Gedanken, meine Enttäuschung: Wie schön wäre es, auch nochmals mitspielen zu können, nur noch einmal, einfach so, noch einmal dem Ball nachrennen, eher: nach ihm zu hechten, im Tor. Die Gelenke, das Alter, sprechen dagegen.


Es war auf Mallorca, am Strand Es Trenc im Südosten der Insel, ein Herbsttag, es fühlte sich nochmals wie Sommer an, aber der Sommer war schon weit weg, die meisten Touristen wieder zu Hause. Die Aufseher auf ihrem Hochsitz an der Beach haben keine Arbeit mehr, es steht nur noch der Stuhl da, vielleicht wird er auch bald abgeräumt, irgendwo gelagert.

Einen Sommer lang aufs Meer zu schauen, aufzupassen zwar auf jene, die darin schwimmen, aber zwischendurch sicher einfach gedankenversunken in die unendliche Weite zu blicken, den Wellen nachsehen: Stumpft das ab, weil es Alltag ist, weckt es nicht mehr jene Gefühle, die wir haben, wenn wir am Meer sitzen und hinausschauen, das Gefühl von Sehnsucht und Melancholie und Wehmut vielleicht, nach etwas, das war oder etwas, das vielleicht kommen wird, im ständigen Rausch der Wellen?


Es war, wieder zurück in der Schweiz, hoch oben über Herrliberg, bei der Blüemlisalp, so nah bei der Stadt und doch weit, weit weg von der Hektik, es war ein Montag, nur noch wenige waren in der Natur unterwegs, es war still, und die Kuh kam auf der Wiese immer näher, nur ein Holzgitter trennte uns noch, sie sah mir in die Augen oder zumindest in das Smartphone.

Was dachte sie, dachte sie überhaupt etwas? Was will er da, was macht er, warum ist er so nahe, dieses fremde Wesen, dachte sie so? Kühe, lese ich, sehen die Welt eher verschwommen, aber sie sind sehr gute Beobachter, sie hören besser als wir Menschen, und zufriedene Kühe seien leise. Meine Kuh war ganz leise. Sie blieb einfach stehen, minutenlang. Kühe hätten ein Langzeitgedächtnis, lese ich auch. Hat sie mich schon einmal gesehen?


Noch ein Tier. Meine Tochter hat mir das Bild geschickt. Ihr Hund, er heisst Django, am Fenster ihrer Wohnung. Er würde oft dort stehen, wenn sie weggeht und auch dort warten, wenn sie wieder nach Hause kommt.

Aber mir kommen diese Gedanken, wenn ich das Bild sehe: Ein Hund blickt hinaus in die Welt, doch er weiss nicht, wie verrückt und gestört diese Welt ist, was gerade an vielen Orten Schreckliches passiert. Er ist nur traurig, weil die Person, die ihm so verbunden ist, weggeht, und er ist glücklich, wenn sie wieder zurück kommt, mehr nicht. Er wartet.


Und dieses Bild, aufgenommen irgendwo über den Wolken, gestartet mit dem Flugzeug in Frankfurt und mit Costa Rica als Ziel. So weit oben im Himmel und so klein da unten die Welt, eben sah man wenigstens noch Dörfer und Häuser, überlegte sich, welche Menschen darin wohnen, was sie gerade machen. Es ist Mittag, es ist ein Samstag, viele sind wohl zu Hause, aber jetzt, nur wenige Minuten später, wissen wir nicht mehr, wo wir sind – noch Deutschland, bald Frankreich, schon über dem Atlantik? – und die Welt scheint so friedlich, so unberührt. Wenn nur die Zeitungen nicht wären, die wir mitgenommen haben und sie jetzt lesen, auf dem langen Flug, und die so viel anderes erzählen.


Ich sehe das Bild und denke an Edward Hopper, den Amerikaner. Er hat nie eine Kamera in die Hand genommen, doch seine Werke sind gemalte fotografische Momente, sie zeigen immer Szenen des Wartens auf etwas, Menschen in einer Bar, in einem Zimmer, an einer Tankstelle, in Strassen, auf einer Veranda, sie zeigen nur die Einsamkeit, verraten aber nicht mehr, seine Bilder sind gemalte Einsamkeit.

«Nighthawk» ist sein berühmtestes Werk, die Nachtschwärmer, der Blick von draussen in eine Bar mit vier Menschen um die Theke. Daran denke ich, es ist keine Bar, sondern eine wintersaisonale Sauna in Küsnacht am See, einsame Menschen wie bei Hopper sieht man nicht, aber zoomt man das Bild heran, erkennt man in einem Cube verschwommen ein Bein eines Menschen, einer Frau, einem Mann?

Das Bild zeigt viel, die nächtliche Stimmung, das Wasser im Licht, auch Intimität, kalt ist es draussen, heiss muss es drinnen sein, dunkel draussen, hell drinnen. Es ist still, wie in der Einsamkeit. Wie bei Hopper.


Es ist auf Costa Rica, diesem wunderbaren Land, wo es nur eine Farbe zu geben scheint: grün, überall grüne Natur. Und es ist auf einem Fluss am karibischen Meer, von Caño Blanco fahren die Boote weg nach Tortuguero, das übersetzt heisst: Platz, an den die Schildkröten kommen. Ein Dorf ohne Autos, es ist nur auf dem Boot oder mit kleinen Flugzeugen zu erreichen.

Er ist einer, der die Menschen täglich mit dem Boot dorthin führt, sein Name ist Eduardo, er sitzt am Steuer, er lächelt freundlich, wenn er einen anschaut, aber er spricht kaum, auch mit jenen wenig, die seine Sprache sprechen, doch er wirkt glücklich.

Ist es, weil sein Arbeitsplatz so wunderbar ist, auf den Kanälen und Flüssen, in dieser beeindruckenden grünen Natur, kilometerlang durch den Dschungel, dem Regenwald entlang, einfach immer nur grün, mit der grossartigen Tierwelt? Und wenn er sein Boot anhält, weil er sieht, hier am Ufer liegt ein junges Krokodil auf einem Stein, dann scheint er genauso fasziniert und neugierig wie die Touristen, die er transportiert.


Ein letztes Bild, auch nur ein Moment, es ist in Tortuguero, es ist ein später Nachmittag, wenige Meter entfernt sind Kinder des Dorfes aus einem Haus gekommen, «Bienvenidos escuela» steht gross drauf, willkommen in der Schule. Die Kinder, alle mit weissen Hemden, die Mädchen mit schwarzen Röcken, die Buben schwarzen Hosen, und schwarze Socken tragen alle, sind fertig mit ihrem Unterricht, sie spielen jetzt miteinander oder reden, ein Mädchen jongliert mit einem Ball, aber am Ohr hat sie auch ein Handy, es spricht mit jemandem.

Und was denken diese kleinen Kinder einige Meter entfernt auf einer Bank, sie müssen wohl noch nicht in die Schule, die Mädchen essen eine Frucht, der Bub hat einen erstaunten Blick? Denken sie, was auf sie zukommt, wenn sie auch zu den Grossen gehören und in dieses Schulhaus müssen, sind sie einfach froh, unbeschwert hier auf der Bank im Abendlicht verweilen zu können?


Ein Bild, auch dieses, das nur festhält, vielleicht Fragen aufwirft, keine Antworten gibt, es sind Momente des Lebens an ganz verschiedenen Orten dieser Welt, zufällig aufgenommen in diesen Wochen, weil man in diesem Moment an diesem Ort war. Und jetzt eine Geschichte dazu sucht.

Fotos: Fredy Wettstein, Melanie Marday-Wettstein (1)



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