Der Tag null

Blog-Nr: 283



Kennen Sie das?

Kaum aus dem Haus, hast du das Gefühl, falsch gekleidet zu sein, es sind deine Kleider, sie passen zu dir, aber nicht jetzt, an diesem Tag. Man fühlt sich unwohl, im morgendlichen hellen Licht.

Aber schon vorher, beim ersten Schritt aus dem Bett, stolpert man über Zeitungen, die zerstreut auf dem Boden liegen, gelesen und ungelesen, die Zahnpasta verspritzt, der Rasierapparat hat keinen Akku mehr, das Duschgel ist ausgegangen, das Wasser ist eiskalt und nicht lauwarm, weil man den Hahn falsch gedreht hat, das Joghurt, DAS, fehlt im Kühlschrank, der Schnürsenkel an den Schuhen reisst, die Waage zeigt eine verwirrende Zahl.

Ein Tag null, man denkt schon jetzt, er müsste gestrichen werden können, Sommertag im Herbst hin oder her.

Und es geht weiter. Man will allein sein, aber nicht einsam, man geht ins Café unter Leuten, hofft, dass die Leute nicht bemerken, dass man hier ist, wie jeden Morgen, und dann quatscht dich doch einer an, und man mag gar nicht zuhören und reden. Man liest Zeitung, aber eigentlich will man gar nicht lesen; man nimmt das Handy, legt es wieder weg, nimmt es wieder, irgendwelche Whatsapp-Nachrichten, komische Nachrichten, was auch immer, sie stören.

Man will ja allein sein, man hat das für sich beschlossen, an diesem komischen Morgen, allein, aber nicht einsam. Man greift zu den Kopfhörern und will das Lied hören, das man am Samstag gehört hat, an diesem Samstag, der doch ganz anders war, auch ein Sommertag im Herbst, der Himmel blau. Er wäre auch jetzt wieder blau, aber er scheint nur grau.

Das Lied. Das gleiche, die gleichen Worte, aber am Samstag im Casino-Theater in Bern, als Element of Crime auf der Bühne standen und Sven Regener sang, wirkten sie zwar melancholisch, teils schwermütig, aber schön, doch jetzt, wenn alles so düster scheint, nein: ist, sind sie auch nur düster.

Im Lied, es heisst «Morgens um vier», wie auch das Album, es handelt davon, wie man morgens um vier durch Berlin läuft (oder, wie im Video, im alten Citroën fährt) und die liebste Person vermisst, geht eine Zeile so:

Wird es jemals wieder Tag,
werde ich je wieder gross und stark und mutig sein,
Werden die Bäume je wieder grün,
werde ich dich jemals wiedersehen und mich freuen.
Werde ich je wieder schlafen können,
dir dein Leben gönnen und nichts bereuen?


Element of Crime: «Morgens um vier» (Youtube)


Man hört es, zweimal, mehrmals, und denkt: Spinnst du? Falsche Kleidung, verspritzte Zahnpasta, kein Duschgel und kein Yoghurt, das richtige, du bist in dieser Stimmung – lächerlich, deine Gefühle in dieser verrückten  Welt, in der andere ganz andere Gründe haben, um schlecht gelaunt zu sein. Die Nachrichten melden , dass der Kreml bis Ende Jahr 420 000 zusätzliche Armeeangehörige einziehen will, im Balkan eskaliert die Lage, und Serbien schickt Soldaten an die Grenze zu Kosovo.

Und mich belastet am Morgen ein Blues wegen nichts.

Am Samstag, nach dem Konzert, im kleinen Kreis – man kennt niemanden, jetzt ist man plötzlich nicht allein, eher einsam –, man wechselt jedoch ein paar Worte mit ihm, Sven Regener, den man zuvor auf der Bühne gesehen hatte, nicht tiefsinnig, mehr Dank für das, was man erleben durfte, und man spürt bei ihm: Die Leere nach einem Konzert, eine gewisse Einsamkeit, kurz zuvor zwei Stunden auf der Bühne vor dem grossen und begeisterten Publikum, jetzt ist er (fast) allein.

Und man hätte gerne diese Frage gestellt: Wann kommen die Ideen zu solchen Liedern, in welchem Gefühlszustand muss man sein, dass solche Texte und dann Songs entstehen? 

Regener sagte kürzlich in einem Interview: «Ich bin kein Ratgeber, ich singe nur Lieder.»

Sven Regener im Casino-Theater in Bern

In einem Lied, auch auf  dem neuen Album, es heisst «Liebe ist nur ein Wort» und es ist auch ein Buchtitel des verstorbenen österreichischen Bestsellerautors Johhannes Mario Simmel, singt er:

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sagst du
Und nur eine Nacht, auch wenn sie schön war, sagst du
Macht noch lange nicht ein altes Liebespaar aus uns beiden
Obwohl das nicht das Schlimmste wär’

Liebe ist, wie schon Johannes Mario Simmel, sagst du
Völlig richtig eines seiner besten Bücher nannte
Nur ein Wort
Und das fehlt dir.

Regener sagt auch im Interview: «Was kann ich tun, damit das Gute stärker und das Schlechte schwächer wird?»

Vielleicht muss man so einen Tag bewusst erleben, ein Tag, der so schlecht begann und gar nicht schlecht endete. Der Himmel am frühen Abend war wieder nur blau, nicht grau. Aber vielleicht entstehen so Lieder. Oder Texte.

«Und ich trinke auf das schöne Leben, was wir niemals haben werden», singt nicht Sven Regener, sondern Madlaina Pollina, die zusammen mit ihrer Freundin Nora Steiner im Casino-Theater in Bern als Vorgruppe auftraten. «Schön ist das Leben, schlecht ist die Welt», das ist von Regener.



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