Lieber Sommer

Blog Nr. 273





... du lässt an vielen Orten der Welt die Wälder brennen:

du lässt die Stadt La Chaux-de-Fonds verwüsten, apokalyptisch sieht es aus;

du lässt uns um Mitternacht heimfahren auf der Vespa, im T-Shirt mit lauwarmer Luft im Gesicht, und wir möchten einfach noch weiterfahren, ziellos, wunschlos glücklich, irgendwohin durch die ganze Nacht, lediglich Bruce Springsteen müsste noch singen;


du lässt uns am anderen Tag aufstehen, und wir frieren und stellen im Auto die Sitzheizung ein;

du lässt uns träumen, mit einem Negroni Sbagliato in der Hand und später einem zweiten, mit dem Rauschen der Wellen des nahen Sees im Ohr, den Schiffen auf dem See und den Enten im Gras und mit dem glücklichen Gefühl  beim einfach-nur-Sein-dürfen;



du lässt uns nur wenig später erschrecken, weil es plötzlich und aus einem Himmel, der kurz zuvor noch hell war und der jetzt dunkel und fast schwarz ist, donnert und blitzt und kracht und dann auch aus Kübeln giesst und Schirme durch die Luft fliegen und Badetücher auf dem Wasser treiben;

du lässt uns gekaufte Kino-Tickets zurück, weil die Liebesszenen auf der Leinwand am See nicht mehr zu sehen wären;

du lässt das Mittelmeer zu einer Badewanne werden, mit 30 Grad Wassertemperatur, und in Florida sollen gar 37 Grad gemessen sein;

du lässt zu, dass am Morgen nach den Nachrichten beim Bericht zum Wetter einer sagt, heute müssen wir auch über die Schneefallgrenze reden, es schneie in einigen Teilen der Alpen bis 1500 m herunter, aber im Süden, da gäbe es tropische Nächte;

du lässt uns in kurzen Hosen und Flipflops am Morgen hinausgehen und eine Stunde später als pflotschnasser Pudel heimwärts hetzen, weil in der Wohnung alle Fenster offen und die Böden längst nass sind und die Blumen auf dem Balkon umkippen;

du lässt uns, nicht bei uns, aber in unserer Nähe, die heissesten Tage in der Geschichte der Menschheit messen und die trockensten;



du lässt uns beim Apéro schwitzen und stöhnen über die Hitze, und als der Grill seine Temperatur erreicht hat, öffnet der Himmel seine Schleusen, und wir stehen in der einen Hand mit dem Regenschirm und der anderen dem Fleisch vor dem Feuer und am besten hätten wir die Badehose noch an.

Lieber Sommer, du weisst nicht, was du willst, und wir reden übers Klima, das sich wandelt, und wir reden zurecht darüber, weil es uns grösste Sorgen machen muss; 

Sommer, du bist verrückt, wie so vieles auf dieser verrückten Welt.

Aber Sommer, du warst doch immer wieder eigenwillig, wir erinnern uns. Schon als Kinder sind wir in der Badi gewesen, waren im Wasser, und da hat der Bademeister (Bademeisterinnen gab es damals noch keine) wild geschrien und gepfiffen, wir hätten schleunigst rauszukommen; es war grauschwarz am Himmel, und dann haben wir Schutz gesucht unter dem Dach der Garderobe, und eine Stunde später, es war oben wieder blau und die Sonne schien, haben wir weiter gespielt, im Wasser und mit dem Ball.

Nur schon stundenlang zuvor mit Push-Nachrichten und Weltuntergangsszenarien gewarnt hat uns damals niemand, wir hatten auch kein Handy in der Hand, sondern nur den Ball oder zwischendurch das Glacé, immer Schokolade.

Es war in diesem Jahr ein Frühling, der keiner war oder gar mehr ein Winter oder schon ein später Herbst, und jetzt ist es ein Sommer, der macht, was er will. 

Geniessen wir ihn, in jedem Augenblick, sie reden schon wieder von herbstlichen Gefühlen, Sommer, du machst uns leidenschaftlich. In fünf Monaten ist Weihnachten und Silvester fast schon vorüber.


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