Ich-AG im Wir-Verein




Fussballtorhüter sind einsam. Manchmal eigenartig. Besonders sind sie alle. Weil sie eine besondere Rolle in einer Mannschaft haben. Sie sind anders gekleidet als die anderen. Oft sind ihre Trikots besonders grell, sie sollen die Bälle wie ein Magnet anziehen. Sie tragen Handschuhe. Dürfen als einzige ihre Hände benutzen, doch längst ist besonders wichtig, dass sie auch mit den Füssen stark sind, die Hüter sind heute eigentlich auch Torspieler, sie stehen wachsam weit weg vom Strafraum, spielen mit den Füssen mit, als letzter Verteidiger vor dem Torhüter, der sie sind.



Ich stand kürzlich wieder einmal während einem Spiel hinter dem Tor, es war nur die 3. Liga. Und der, der im Tor stand, war mein Neffe.  Ich war also auch etwas nervös, ich versuchte zu denken, wie er denkt, und innerlich schrie ich und begann zu dirigieren, denn Torhüter dirigieren immer, mit Händen, aber vor allem mit der Stimme, «pass auf, links, und der rechts, Achtuuuuung!», und Torhüter schreien schon «pass auf, links, und der rechts, Achtuuuuung!», wenn der Ball noch weit weg ist und eigentlich keine Gefahr droht. Aber Torhüter sehen immer Gefahren.

Auch Torhüter in der 3. Liga sind Dirigenten

Torhüter sind anders. Eben eigenartig. Haben einen eigenen Charakter. Aber sind doch nicht gleich. Einige sind verrückt, Torhüter spinnen, sagen manche, oft auch die eigenen Mitspieler, aber Torhüter können auch die höflichsten Menschen sein, wie Yann Sommer, der, so scheint es, wenn er nicht im Tor steht, keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, aber als Mann im Tor auch einen bösen Blick haben kann – und dann bald wieder lächelt.

«Das Tier im Tor», das zum Titan wurde

Einer lächelte nie. Er war ein ganz besonderer Torhüter. Er hatte einen irrlichternden Blick, war ehrgeizig bis zur Verbissenheit, er brüllte und tobte, war grimmig mit schäumender Wut, er packte eigene Mitspieler am Hals und schüttelte sie oder presste seinen Kiefer an den Hals eines gegnerischen Stürmers, biss ihn gar, riss an den Haaren.

Die «Süddeutsche Zeitung» nannte ihn mal den «manischen Berufstorwart», der «Stern» schrieb vom «Tier im Tor». Der Strafraum war sein Revier, das Tor sein Käfig, er war ein Finsterling mit stechendem Blick, fletschte seine Zähne. Titan wurde er genannt – Oliver Kahn.

Er war eine Zeit lang der Beste der Welt, nach 557 Spielen in der Bundesliga hörte er 2008 auf, 39-jährig.

Und er begann ein neues Leben. Wurde Geschäftsmann, Fussballexperte beim ZDF, schloss ein Wirtschaftsstudium ab, schrieb Bücher, gründete eine Stiftung für sozial benachteiligte Kinder, man hatte plötzlich ein anderes Bild von ihm.

Bei der Medienkonferenz nach seinem Abschied wird er auf das Gedicht «Der Panther» von Rainer Maria Rilke angesprochen, das er einmal in einem TV-Porträt selber vorgetragen hatte. In diesem Text gehe es, sagte Kahn, ums Ausbrechen aus der Gefangenschaft der Gitterstäbe, und in einem gewissen Sinne habe er das auch vor.

2020 kehrte er zum FC Bayern München zurück, zuerst als Mitglied im Vorstand, dann als Nachfolger von Karl-Heinz Rummenigge als Vorsitzender. CEO war er jetzt, eine neue Ära sollte beginnen, die Ära nach Hoeness/Rummenigge. Die Ära Kahn. Hoeness wollte es so.

Seite-3-Geschichte in der «Süddeutschen Zeitung»: Der Verein ist grösser als der Einzelne.

Sie endete am vergangenen Donnerstag. Kahn war Kahn geblieben. Oder wurde wieder zum Torhüter Kahn. Einmal Torhüter, immer Torhüter, stand irgendwo, er habe den Verein führen wollen, wie er einst als Torhüter den Strafraum beherrschte. Sein Blick war wie damals in kurzen Hosen, oft düster, verbissen, er soll, heisst es, viele Leute in der grossen Bayern-Familie kaum beachtet und wenig geschätzt haben. «Bayern ahead» heisst sein Projekt für die Zukunft des Vereins, sehr technokratisch, wenig familiär.

Er war eine Ich-AG im Wir-Verein, redete zwar von «Mia san mia», lebte es aber nicht vor. Die «Süddeutsche» beschrieb es so: «Kahns Plan, den FC Bayern mit Unternehmensberatern, Unternehmensberaterlogik, Unternehmensberatersprech und einem Chief of Staff von Hoeness’ Folkloremännerwelt mit Sekretärin zu emanzipieren, wird auf sagenhafte Weise unerfüllt bleiben. Kahns Plan hat sich gegen den Schöpfer gewendet, eine Gotteslästerung.»

Kahn soll heftig reagiert haben und getobt, als ihm der Schöpfer (Hoeness) zusammen mit seinem Nachfolger als Präsident (Hainer) das Ende der Zusammenarbeit eröffneten, zwar nicht gleich mit einem Reissen an den Haaren der beiden, aber doch mit bösen und sehr lauten Worten.

Krach mit Hoeness - und dann ein Blumenstrauss

Solches ist auch schon geschehen. Kahn musste einmal, nachdem er sich als Captain frühzeitig von einer Weihnachtsfeier der Mannschaft abgesetzt hatte, am anderen Tag im Büro des Managers erscheinen. Es habe dabei so «gescheppert und zuletzt die Türe gekracht» (so Hoeness), dass die Sekretärin nebenan das Schlimmste befürchtete.

Am anderen Tag fuhr Kahn zur Villa von Hoeness am Tegernsee, mit einem grossen Blumenstrauss für die Frau des Managers.

Torhüter können also auch charmant sein. Selbst Oliver Kahn.

Er will jetzt möglichst bald eine Aussprache mit Hoeness und Hainer. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass Kahn dazu wieder mit einem grossen Strauss von roten Rosen erscheint.



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