Nicht mehr weiter



Die Geschichte beginnt so. Es ist die Geschichte des FC Bayern von heute. Es ist die Geschichte des FC Hoeness.

Es war ein Tag im Mai 1979, Uli Hoeness, 27, war als Spieler Welt- und Europameister, aber sportinvalide wegen eines Knieschadens, und jetzt kam sein erster Arbeitstag als neu angestellter Manager. Der Klub war damals ziemlich verschuldet, machte einen Umsatz von 12 Millionen DM.


Hoeness betrat ein kleines Büro, er hatte ein graues Sakko, ein blaues Hemd und gar eine Krawatte angezogen, «ich war ja Manager, musste doch irgendwie präsentieren», in der Hand ein Notizblock, und auf dem kleinen Tisch stand ein Telefon, mehr nicht, es war noch nicht die Zeit der Computer, für Hoeness ist es auch heute, 2023, nicht die Zeit von Computern, er will keinen haben, er hat noch einen Fax zu Hause.

Und zu tun gab es an diesem Tag im Mai 1979 praktisch nichts, er telefonierte mit einigen Leuten, organisierte ein Freundschaftsspiel und ging dann bald wieder nach Hause.

Oliver Kahn war damals 10-jährig, er spielte bei den Junioren des Karlsruher SC, stand bereits im Tor, und gewiss hatte er schon damals als Kind diesen verbissenen, total ehrgeizigen Gesichtsausdruck.

Die Geschichte hat dann dieses Kapitel. Es war 40 Jahre später, im November 2019, die Jahresversammlung des FC Bayern München. Es war der rührselige Abschied von Uli Hoeness, Spieler war er, Manager, jetzt seit zehn Jahren Präsident und auch Vorsitzender im Aufsichtsrat und zwischendurch wegen einer Steuersache länger im Gefängnis.

Minutenlang gab es für ihn eine stehende Ovation der Mitglieder, sie sangen, «Uli, du bist der beste Mann». 17 Minuten lang sprach Hoeness, er war geschüttelt von Emotionen, musste ein Taschentuch nehmen, zuletzt benutzte er die Worte seines einstigen Trainers Trapattoni: «Das war’s, ich habe fertig.» Die Halle tobte.

Frenetisch gefeiert wurde auch Oliver Kahn, einst Welttorhüter, jetzt vorgesehen als Nachfolger von Karl-Heinz Rummenigge als Vorstandschef. Rummenigge, eher ein Kahn-Skeptiker, sagte an diesem Abend: «Er war auf dem Platz unser Titan. Wir wissen: Titan rostet nicht, und dementsprechend können wir uns auf einiges gefasst machen.» Und auch Hoeness sagte etwas: «Da hast du viel Arbeit, um diesen Vorschusslorbeeren gerecht zu werden.»

Der Patriarch Hoeness zog sich zurück auf seinen Ruhesitz in seine Villa hoch oben über dem Tegernsee. Aber er sagte auch: «Ich werde den Klub wie eine Glucke bewachen».

Das ist die Geschichte heute, im Mai 2023. Bayern wies zuletzt einen Umsatz von 665 Millionen Euro aus, gehört zu den reichsten Vereinen der Welt, kein anderer als die Münchner hat mehr Mitglieder (über 300 000) – aber der Verein ist in grosser Unruhe, es bebt in München, erstmals seit elf Jahren droht ein Jahr ohne Titelgewinn, nach zehn deutschen Meisterschaften hintereinander, Dortmund braucht am Samstag einen Sieg und löst Bayern ab.

Diesmal wohl keine Meisterfeier auf dem Balkon des Rathauses.

Die Krise ist gross, es geht um Schuldige zu bestimmen, personelle Veränderungen vorzunehmen.

Die «Süddeutsche Zeitung» schreibt in einem Kommentar, es müsse die folgende Grundsatzfrage geklärt werden: «Will der FC Bayern noch jenes Familienunternehmen sein, das einst gross gemacht wurde vom Manager Hoeness und von dessen kongenialen Partner, dem Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge? Oder darf er inzwischen so neumodisch aufgestellt sein wie ein börsennotiertes Unternehmen, in dem der Chef keine Sekretärin wie Hoeness im Vorzimmer sitzen hat, sondern einen Chief of Staff? Und in dem sofort ein einwöchiger Workshop mit Mind Maps und Powerpoint veranstaltet wird, wenn der Greenkeeper nur einen neuen Rasenmäher bestellen möchte?»

Es geht um Oliver Kahn, der sich mit McKinsey-Leute umgibt, aber sonst offenbar wenig Wert darauf legt, den vielen Mitarbeitern im Klub etwas menschliche Wärme zu geben, sein Gesichtsausdruck ist immer noch sehr verbissen und distanziert, manchmal grimmig. Er setzte, zusammen mit seinen Einflüsterern, das Konzept «FC Bayern AHEAD» auf.

Einer sagt, früher sei jemand da gewesen, der zwar nicht davon gesprochen, aber «Mia san mia» gelebt und vorgemacht habe; heute sei es einer, der zwar manchmal davon spreche, aber nie danach lebe.

Uli Hoeness immer mit rot-weissem Schal auf der Tribüne in der Allianz Arena

Die Geschichte morgen. Und morgen kann sehr schnell kommen, vielleicht schon in diesen Tagen. Hoeness mag von seinem Ruhesitz am Tegernsee seit einiger Zeit nicht mehr zusehen, Rummenigge offenbar auch nicht, der Aufsichtsrat, in dem Hoeness noch sitzt, tagt zwar offiziell erst am nächsten Dienstag, doch schon jetzt gibt es ständig Gespräche. Es könnte rasch gehen.

Und rasch gehen heisst, so scheint es und wird spekuliert: Es geht nicht weiter mit Oliver Kahn, der einst sagte, als er die Angriffe noch mit Händen und Füssen im Tor abwehrte: «Weiter, es geht immer weiter.»

Die Münchner scheinen wieder zum FC Hoeness zu werden, der viel Einfluss nimmt, auch Rummenigge ist eingebunden, und der Nachfolger von Kahn soll bestimmt sein: Jan-Christian Dreesen, der als jahrelanger Finanzchef eigentlich am Ende der Saison zurücktreten wird, jetzt aber den CEO-Posten Kahns übernehmen soll. Dreesen steht Hoeness nahe. Und Dreesen steht der rumorenden Basis und den treusten der Treuen nahe, die ihn als einen der Ihren akzeptieren.

Die Glucke ist 71. Der FC Bayern ist ihr Kind. Hoeness war bei 27 von 32 Meistertiteln des FC Bayern dabei, er will dafür sorgen, dass der nächste spätestens 2024 kommt. Und Bayern soll wieder eine Familie werden, «Mia san mia», ohne einwöchige Workshops und Powerpoint-Präsentationen. Mit Trainern, von denen man sich, wenn nötig, bei einem Glas Rotwein trennt und nicht nach einem kühlen Telefongespräch, nachdem bereits alles nach aussen gedrungen war. Als Yann Sommer in den Medien und durch sogenannte Experten hart kritisiert wurde, war keiner im Klub, der ihn schützte - nur Hoeness rief ihn an, sprach aufmunternde Worte, die Sommer gut taten.

Und ja, das Fax im Büro in Bad Wiessee ist weiter in Betrieb.

Am Abend spielt Herbert Grönemeyer in der Münchner Olympiahalle «Zeit, dass sich was dreht.»

Herbert Grönemeyer in der Olympiahalle: «Zeit, dass sich was dreht» – gilt auch für die Bayern.



PS: Communiqué des FC Bayern München am Samstagabend, kurz nachdem die Bayern doch noch und zum 33. Mal und 11. Mal nacheinander Meister geworden sind:









Fredy Wettsteins Blog «Wieder im Auge» kostenlos abonnieren,
oder auf Facebook folgen und lesen.



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!