Tuchels Müller

Wäre ich weg gewesen – nicht gerade auf dem Mond, aber sehr weit weg, ohne Handy und sonstiger Verbindung zu dieser Welt, es ist kaum vorstellbar –, also weg seit dem 8. März, als ich in der Allianz Arena war, draussen vor den Toren Münchens, dann würde ich denken, es wäre immer noch der gleiche Trainer. Aus dieser Distanz, von meinem Platz in der Nordkurve des Stadions aus.


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Gross und schlank ist der, der bei Bayern München an der Seitenlinie steht, auf und ab läuft und fuchtelt, zwischendurch schreit. Aber es ist nicht mehr Julian Nagelsmann, wie damals an diesem 8. März, als die Bayern gegen Paris Saint-Germain, gegen Messi und Mbappé, 2:0 gewannen. Und sie dafür gefeiert wurden, und auch er, Nagelsmann, gefeiert und gelobt wurde, für seine Taktik und sein Geschick, und alle sagten, er könne in dieser Saison noch Grosses erreichen, mit seinen Bayern und auch er als Trainer, der noch jung ist, aber so begabt wie nur wenige für diesen Job.

Aber inzwischen hat er einen Telefonanruf bekommen, als er in einem kurzen Skiurlaub im Zillertal weilte, zur Erholung vor den nächsten grossen Aufgaben. Sie müssten ihm etwas mitteilen, hörte er, und er solle auf der Geschäftsstelle erscheinen, doch er wusste, was sie ihm zu sagen haben, weil es jemand bereits der «Bild»-Zeitung gesteckt hatte: Er sei freigestellt, sofort. 16 Tage nach dem Sieg im Achtelfinal der Champions League.

Und der, der jetzt an der Seitenlinie steht und den ich aus Distanz in der Nordkurve beobachte, auch gross, auch schlank, eher hager, auch fuchtelnd (nicht so oft), schreiend und antreibend (diesmal nicht so nötig), ist eben nicht mehr Nagelsmann (35), sondern Thomas Tuchel (49). Und eines unterscheidet die beiden: Der Neue steht (und fuchtelt manchmal) im klubfarbenen Trainingsanzug und mit dunkler Kappe an der Linie, der Alte stand (und fuchtelte) draussen modebewusst, eher kostümiert als angezogen, wie die «Süddeutsche» ihn stilistisch beschrieb.

Mit Tuchel waren die Bayern schon einig, als sie Nagelsmann sagen mussten, dass es mit ihm nicht mehr weitergeht. Zuletzt hatten sich die neuen Führungsleute noch bei Uli Hoeness, dem Ehrenpräsidenten, abgesichert, ob auch er damit einverstanden ist. Was nicht unwichtig ist, denn Hoeness hat vor Jahren, als die Bayern bereits einmal an Tuchel gedacht und mit ihm gesprochen hatten, noch gezögert, da er weiterhin glaubte, seinen Freund Jupp Heynckes (73 damals) zum nochmals-Weitermachen überreden zu können.

Und vor gut 30 Jahren, als Hoeness, damals Manager, Heynckes beim ersten Engagement hatte entlassen müssen, waren Trennungen noch ganz anders abgelaufen: Die beiden hatten sich im Haus von Hoeness getroffen, hätten nachher, so sagen sie jetzt, geheult wie Schlosshunde und bis weit nach Mitternacht Rotwein getrunken und Karten gespielt. Viel später sagte Hoeness dann, es sei sein grösster Fehler als Verantwortlicher gewesen.

Erstes Spiel für Thomas Tuchel in der Allianz Arena

Und jetzt, an diesem kühlen und verregnet-windigen Samstagabend, ist also Tuchel der neue Bayern-Trainer, beim Gipfeltreffen des deutschen Fussballs, gegen Borussia Dortmund, wo Tuchel auch einmal Trainer war. Nagelsmann ist weg, weil Tuchel, der noch mehr Begehrte, frei war und dies vielleicht bald nicht mehr gewesen wäre. Nagelsmann hat den Bayern insgesamt für die 20 Monate um die 35 Millionen Franken gekostet, und eigentlich ist es verrückt, ein Klub, der zehnmal hintereinander deutscher Meister war, hat in sieben Jahren schon den achten Trainer.

«Mia san mia», sie sind, wie sie sind; zumindest immer schillernd, diesmal «mit wenig Herz, wenig Liebe», und der dies kürzlich sagte, ist immerhin einer der wichtigsten Angestellten, Captain Joshua Kimmich.

Es ist das erste Spiel für Tuchel, aber es ist an diesem Abend auch das Spiel Yann Sommer gegen Gregor Kobel, der Vergleich der Torhüter Nummer 1 und 2 der Schweiz. Gegenwart gegen Zukunft, wobei die Gegenwart in der Hierarchie (Sommer) vielleicht noch länger auch die Zukunft bleibt.

Gregor Kobels Schreckenssekunde (Bild ab ZDF)

Nach diesem Spiel vielleicht noch etwas länger. Kobel machte früh einen Fehler, bei dem sich nachher jeder Torhüter in der 5. Liga am liebsten unter dem Boden verkrochen hätte, und er sah bei einem weiteren Tor nicht gut aus. Sommer dagegen, fast beschäftigungslos, blieb immer souverän.

Und Tuchel? Er ballte kurz seine rechte Faust beim 1:0 und auch beim 2:0, erst nach dem 3:0 nach schon 23 Minuten sprang er energischer auf, lächelte, ballte wieder die Faust und gab dann, ganz konzentriert mit einem Zettel in der Hand, seinem Spieler Goretzka taktische Anweisungen. Nagelsmann war jeweils nach Toren an der Seitenlinie herumgesprungen, als hätte er selber getroffen. 

4:2 hiess es am Ende an diesem 1.4, und die Bayern überholten damit in der Tabelle der Bundesliga Dortmund wieder.

Er werde, sagte Tuchel, als er mit Hoeness kürzlich telefonierte, was ihm wichtig war, auf den Klub aufpassen und sein Bestes geben. Der FC Bayern ist Uli Hoeness, und Uli Hoeness ist der FC Bayern, sagte er.

Hoeness sass am Samstagabend wie immer mit seinem rot-weissen Schal auf der Ehrentribüne. Einige Meter neben ihm Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. «Mia san Manager» war der Titel kürzlich in der «Süddeutschen Zeitung», die schrieb, das Führungsduo profiliere sich auf eine Weise, die nicht allen gefalle.

Kritische Töne in der «Süddeutschen Zeitung»

Ein eiskaltes Duo, das einen Trainer, dem sie Tage zuvor noch fast ewige Treue versprochen hatten, rausgeworfen hat, und dies nicht mit verheulten Augen bei Wein und mit Kartenspiel am Familientisch.

Passt der Asket Thomas Tuchel, der «dem Ruf als Eigenbrötler vorauseilt» («Spiegel») zu diesem Verein, der immer wieder bebt und in dem es so viele Mächtige gibt?

Eines zeigte das Spiel gestern: Bayerns wichtigster Mann heisst Thomas Müller, zweifacher Torschütze und wie immer Dirigent und Antreiber mit Mund und Armen, und nicht Julian Nagelsmann, der sich manchmal selber so sah. 

Aber auch er hätte ja mit den Bayern noch Grosses erreichen können. 

Wie jetzt Thomas Tuchel. 
 


 
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